Wer schlafende Hunde weckt
dass bei ihr mittlerweile auch in der Freizeit jede belebte Straßenecke Beklemmungen auslöste wie ein pawlowscher Reiz.
Und als sie um diese Ecke bog, hatte sie wirklich allen Grund zur Verzweiflung. Zwar hatte sie die Zielperson nicht verloren: Croft war keine zwanzig Meter vor ihr und näherte sich der Byres Road, aber Jasmine sah noch etwas anderes. Charlotte Queen saß mit zwei Freundinnen vor einem Café und genoss das unerwartet sommerliche Wetter. Und sie schaute in Jasmines Richtung. Ihre Blicke trafen sich; nur kurz und über einige Entfernung, aber sie hatten einander gesehen.
Croft war nun fast an der Einmündung in die Byres Road, der mit Abstand belebtesten Straße im West End. Sein Vorsprung war auf kleinen Nebenstraßen in Ordnung, aber auf einer geschäftigen Hauptstraße sehr riskant. Jetzt hieß es aufholen; jede Sekunde, die sie ihm ließ, konnte fatal sein. Sie musste sich beeilen, durfte aber nicht laufen, das wäre zu auffällig.
Sie ging schneller und fixierte Croft, als hätte sie das Grüppchen vor dem Café gar nicht bemerkt. Charlotte hatte sie nur kurz angesehen, also war es gut möglich, dass sie sie nicht erkannt hatte oder sich ohne Kontext gar nicht an sie erinnerte.
Sie war noch fünf Meter vom Tisch entfernt. Flott und zielstrebig, weiter geht’s, entschlossen und in Eile, mit den Gedanken eindeutig ganz woanders, nie im Leben ignoriere ich die großartige, unberechenbare, egozentrische …
»Jasmine? Jasmine Sharp?«
Für Jasmine blieb die Zeit stehen. Von einer Sekunde auf die andere stand sie vor einer Entscheidung, die ihr ganzes weiteres Leben verändern könnte.
Sie wusste, dass sie nicht bleiben konnte. Sie hatte nicht mal für eine noch so kurze Erklärung Zeit, warum sie nicht bleiben konnte. Ein kurzes »Oh, hi!« im Vorbeigehen wäre für diese Frau ein Affront, die daran gewöhnt war, dass ihr alle zu Füßen lagen.
Jasmine hatte schlicht und einfach die Wahl, entweder die Zielperson zu verlieren, sodass Jim mit leeren Händen zu Hayden – Murray gehen müsste, oder der einen Frau die kalte Schulter zu zeigen – zumal vor deren Freundinnen –, die ihr den schauspielerischen Durchbruch verschaffen konnte.
In dem Moment ging Jasmine in sich und fragte sich nicht nur, was sie wirklich wollte, sondern auch, was sie sich wirklich zutraute.
Ohne ein Wort ging sie weiter, so nah am Tisch vorbei, dass sie den Espresso riechen konnte, die ganze Zeit den Blick auf die Straßenecke gerichtet. Als sie in die Byres Road eingebogen war, hatte sie feuchte Augen. Durch die Menschenmenge und den Tränenschleier dauerte es ein bisschen, aberdann sah sie Croft vor sich, der gerade an den Absperrungen vor der Vinicombe Street vorbeilief. Sie ging schneller.
»Schließe auf«, vermerkte sie und schluckte. »Zielperson geht immer noch geradeaus auf die Great Western Road zu.«
Dieser Job war echt. Jasmine wurde bezahlt. Sie durfte kein kleines Mädchen mehr sein. Mum war weg. Die Träume auch.
Sie ging weiter.
Croft näherte sich der Kreuzung Byres Road, Great Western Road, wo dem botanischen Garten gegenüber Oran Mor stand; Oran Mor, wo sie sich, wenn das Geld reichte, mittags für zehn Pfund »a Play, a Pie and a Pint« gönnte und davon träumte, eines Tages selbst auf der Bühne zu stehen.
Kurz vor der Ecke sah Croft sich um, nur ein kurzer Blick, aber trotzdem gefährlich. Jasmine senkte den Kopf, ging langsamer und trat zur Seite hinter einen schlaksigen Kunststudenten mit einem großen schwarzen Portfolio. Schon jetzt beneidete sie ihn darum, dass er noch Träume hatte.
Vor ihr floss der Verkehr auf der Great Western Road zügig in beide Richtungen. Wieder eine Straßenecke, wieder ein Angstschub, was dahinter lag, zumal sie auf der Cresswell Street die schreckliche Erfahrung gemacht hatte, was alles möglich war. Jetzt war aber alles einfacher: Sie hatte nur noch eine Sache zu verlieren. Solange sie Croft sehen konnte, wenn sie um die Ecke ging, war alles in Ordnung.
Außer natürlich, wenn er genau auf sie zukam.
Scheiße.
Er war umgekehrt: immer ein klares Zeichen dafür, dass die Zielperson den Verdacht hat, dass sie verfolgt wird. Er schaute sie außerdem direkt an; eindeutig ein misstrauischer Blick, den Jasmine auch noch durch direkten Vor-Angst-gelähmt-kann-nicht-weggucken-Augenkontakt verschlimmerte.
Sie war verbrannt wie ein Vampir auf der Sonnenliege. Mittags. In der Wüste.
Jetzt wollte er sie wohl auch noch ansprechen. O Gott, was,
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