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Wer schön sein will, muss sterben

Wer schön sein will, muss sterben

Titel: Wer schön sein will, muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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Angst gekriegt und sie mussten dich wieder betäuben. Ein künstliches Koma nennen sie es. Der Doktor hat gesagt, dein Gesicht sieht nur wegen des Schlafmittels so komisch aus, aber wenn du jetzt wach bist, wird es wieder normal.«
    Ich hörte nur halb zu, dachte immer noch daran, wie ich aussah. Ich wurde immer wütender auf meine Mutter, weil sie mir letzte Woche nicht erlaubt hatte, meine Wimpern färben zu lassen, wie Kate und Langley. Dann würden zumindest meine Augen nicht wie kleine Schweinsaugen aussehen, wie immer, wenn ich keine Mascara auftrug. Ich wurde immer wütender auf sie, weil es ihr egal war, wo ich hinging, weil sie mich nicht beachtete. Sie hatte Zeit, Joe zu beachten, aber für mich war sie zu beschäftigt, ich machte zu viel Arbeit, zu viel …
    »Ich hab mein bestes Kleid angezogen, weil ich schön aussehen wollte, wenn du die Augen aufmachst.« Sie zog an einem Faden an der Ecke meiner Bettdecke. »Sie haben gesagt, dass du es vielleicht niemals wieder tust, aber ich wusste, du würdest. Ich wusste, du würdest uns nicht verlassen.«
    Es war süß und verrückt, dass sie ein besonderes Kleid trug, und es riss mich aus meiner Selbstbezogenheit.
Oh, kleine Schwester
, wollte ich sagen.
Es tut mir leid, dass du das hier durchmachen musst.
    Sie zog immer noch an dem Faden, jetzt absichtlich. Ich konnte ihre Augen nicht sehen, nur die langen, dunklen Wimpern, die durch die Vergrößerung der Brille noch länger aussahen. »Mommy hatte nur Angst, deshalb hat sie so getan, als wäre sie böse«, sagte sie leise. Seitdem sie sprechen konnte, was bei ihr bereits mit fünfzehn Monaten der Fall gewesen war, war Annie Moms größter Fan gewesen. Obwohl sie jetzt erst sieben war, war sie in gewisser Weise die Vernünftigste in unserer Familie. »Sie wollte nicht schreien. Sie hatte nur solche Angst, dass du sterben würdest, und als du dann überlebt hast, waren da so viele Gefühle in ihr und irgendwie kamen sie alle auf einmal heraus. Weil sie dich so liebhat. Du kennst ihre Art, das zu zeigen.«
    Ich hatte keinen Grund, mit Annie zu streiten. Sollte sie doch, solange sie noch konnte, ein Idealbild von meiner Mutter haben. Ich blinzelte einmal.
    »Und …« Sie unterbrach sich, sprach dann schnell weiter. »… ich hab dir etwas mitgebracht.«
    Sie ging in die Ecke des Zimmers und suchte in ihrem Rucksack herum, den sie überallhin mitnahm. Es waren zwei Bücher (für den Fall, dass sie eines beendete), ein Fruchtriegel, zwanzig Dollar (fünf davon in fünfundzwanzig Cent Münzen), ein Schweizer Armeemesser und ein zusätzliches Paar Schnürsenkel darin. Ich hatte sie nie gefragt, wieso sie sich für genau diese Dinge entschieden hatte.
    Als sie zum Bett zurückkam, hatte sie einen Stoffhund mit einer abgewetzten Stelle am Kopf und am rechten Fuß bei sich. Genau genommen gehörte er mir, aber ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen und auch nicht an ihn gedacht, zumindest nicht seit wir Chicago verlassen hatten.
    Als könnte sie meine Gedanken lesen, sagte Annie: »Ich habe ihn aufbewahrt. Manchmal schläft er auch bei mir im Bett. Ich hoffe, das ist okay.«
    Ich wollte einmal blinzeln, aber stattdessen blinzelte ich viele Male, denn mir kamen die Tränen.
    Erinnerungen, die ich tief in mir weggeschlossen hatte, kamen mit Gewalt zurück, und ich konnte sie nicht aufhalten. Wie ich mit meinem Vater auf dem alten Schaukelstuhl in seinem Arbeitszimmer saß und er mir Gedichte vorlas. Ich muss noch sehr klein gewesen sein, denn ich erinnere mich daran, dass ich noch gut auf seinen Schoß passte. So sehe ich uns beide vor mir, mit unseren zotteligen dunklen Haaren, blasser Haut und blauen Augen. »Uneheliche Kinder der heißblütigen spanischen Seefahrer, die in der Schlacht der spanischen Armada in die Flucht geschlagen wurden, und der freundlichen irischen Mädchen, die sie aufgenommen haben«, so beschrieb er seine Vorfahren immer mit Schalk in seinen unendlich blauen Augen. Sosehr Annie unserer Mutter ähnelte, ähnelte ich unserem Vater, oder zumindest hatte ich seine Gesichtsfarbe, seine großen Augen, sein starkes Kinn und seinen etwas zu großen Mund geerbt. Jedoch glaubte ich nicht, dass ich den gleichen Schalk in den Augen hatte wie er.
    Ich liebte sein Arbeitszimmer, den hellen Flickenteppich auf dem zerschrammten goldbraunen Holzfußboden, die weißen Fensterrahmen, die vom regelmäßigen Überstreichen eine so dicke Farbschicht hatten, dass jedes Detail verschwunden war, die Bücherregale, die

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