Wer schön sein will, muss sterben
die Wände vollkommen bedeckten, die zarten gelben Vorhänge, die dem Licht, das über die unordentlichen Papierstapel auf dem Schreibtisch fiel, eine buttergelbe Farbe verliehen. Es war nicht großartig – nicht wie Joes Haus, in dem die Fensterrahmen makellos, die Fenster getönt und die Teppiche so dick waren, dass man tief einsank, und die ungelesenen Bücher zueinander passende rote Lederrücken hatten –, aber ich fühlte mich zu Hause.
Ich konnte stundenlang dort sitzen und zuhören, wenn er mir etwas vorlas, aber am meisten gefiel mir, wenn er Gedichte vorlas, besonders mochte ich die von Robert Frost.
Mein Vater war innerhalb von nur drei Monaten ein Schatten seiner selbst geworden. Als der Arzt sagte, er sei krank – »eine Art Muskelschwund, wir wissen nicht genau, was es ist« –, war es zuerst schwer zu glauben. Er sah immer noch wie Dad aus und klang auch so. Aber schon bald veränderte er sich. Es war so, als würde jemand von einem Foto verschwinden, jeden Tag blasser und kleiner werden, die Farben waschen sich aus, werden flüchtig, bis nur noch die Umrisse und einige Kennzeichen – die Nase, die Art, wie die Schultern abfallen – übrig bleiben. Und eines Tages blickte man das Foto an, und selbst der schwache Rest war verschwunden.
Als mein Vater das letzte Mal das Haus verließ, war er stundenlang weg. Wir waren verzweifelt – er hatte zu der Zeit kaum noch die Kraft, selbst in die Dusche und wieder heraus zu kommen. Die Vorstellung, dass er irgendwo herumfuhr, machte meine Mutter wahnsinnig. Als wir schließlich hörten, wie sich die Garagentür öffnete und wir auf ihn zu stürzten, stieg er gerade strahlend aus dem Auto. Er war offensichtlich sehr geschwächt, aber es schien ihm besserzugehen, er schien munterer, als er es seit Wochen gewesen war.
»Wo warst du, verdammt nochmal?«, wollte meine Mutter wissen. Selbst da konnte sie nicht anders, als ihn anzuschreien.
Als er ihr erzählte, er sei im Shopping-Center gewesen, starrte sie ihn entgeistert an. »Wie konntest du nur so dumm sein? Du bist völlig erschöpft und …«
»Und was? Werde krank und sterbe? Oh, Rosalind, Liebling, das wird ohnehin geschehen.«
Er war zu einem Spielzeugladen gegangen, um ein Stofftier mit einem Sprach-Chip zu kaufen, wie die zum Verschenken, die »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« oder »Fröhliche Weihnachten« sagen. Es war ein Hund mit Schlappohren, und Dad hatte den Chip mit einem Gedicht von Robert Frost besprochen.
»Wenn du mich vermisst«, sagte er und hielt mir mit zitternder Hand den Hund hin, »musst du nur seinen linken Fuß drücken, und du hörst meine Stimme.« Er versuchte es, aber seine Finger waren dafür schon zu schwach. Also tat ich es, und wir hörten gemeinsam zu, wie er mein Lieblingsgedicht vorlas.
Es war das letzte Mal, dass wir alle zusammen zu Hause waren. Danach kam er ins Krankenhaus. »Ich komme wieder, und alles wird so sein wie früher«, sagte er. »Ich werde dich niemals verlassen, Janie, das verspreche ich.«
Er ist niemals zurückgekommen. Er hat sein Versprechen nicht gehalten. Er ist für immer verschwunden. Er hat mich allein gelassen, dabei wollte ich nicht allein sein. Ich habe mich verändert,
alles
hat sich danach verändert.
Ich hatte den Hund in die hinterste Ecke meines Schrankes gestopft, nachdem er gestorben war, und ihn vergessen, oder es zumindest versucht, aber Annie hatte es offensichtlich nicht. Sie hielt ihn mir jetzt hin. »Es ist vielleicht nicht mehr dein Lieblingsgedicht, aber ich dachte, vielleicht kann er dir Gesellschaft leisten.«
Nein
, wollte ich sagen.
Nimm ihn weg. Ich kann ihn nicht ausstehen. Er hat gelogen. Er wusste, dass er nicht zurückkommt. Er hat uns verlassen und dann Bonnie …
»Willst du es hören?«
Ich konnte nicht schnell genug zweimal blinzeln. NEIN !
Annie nickte, schob ihn aber neben mich ins Bett. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihn weggestoßen, aber ich konnte nicht, ich saß in der Falle. Ich versuchte, mich von ihm abzuwenden, schaffte aber nur, den Blick abzuwenden.
»Bitte, Jane«, flehte Annie. Sie stand neben dem Bett und klang so sanft und klein. »Du musst wieder gesund werden. Du musst nach Hause kommen.«
Sie roch nach süßem Lipgloss und Himbeerfruchtgummi. Ihre Augen hinter der rotgeränderten Brille waren riesig. Sie sah erwachsen aus für ihr Alter und zugleich wie ein verängstigtes kleines Mädchen. Angst und Liebe und Hoffnung starrten mich an. Ich hatte Mühe zu
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