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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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seiner Liste, aber sie macht es ihm nicht leicht.Bei konkreten Fragen schlüpft sie ihm wie ein Fisch immer wieder aus den Händen, macht sich auf in Tiefen, in die er ihr nicht
     folgen kann. So klammert er sich an die dürren Fakten wie an einen Rettungsring und fragt: »Und noch immer haben Sie seinen
     Wohnungsschlüssel?«
    »Er wollte ihn nicht haben. Das macht die Sache endgültig, hat er gesagt.«
    »Warum dann ausgerechnet an diesem Abend?«
    »Es hätte jeder andere sein können.« Sie winkt der Kellnerin und bestellt mit einem strahlenden Lächeln ihren dritten Espresso,
     so unbeschwert, als handele sich alles um ein irritierendes, aber auch sehr komisches Missverständnis, dem man absolut keine
     Bedeutung beimessen müsse. »Es war Zufall, verstehen Sie.«
    »Na ja. Das klingt ungewöhnlich. Sie hatten ihn doch sicher vorher länger nicht gesehen.«
    »Gesehen nicht, aber wir haben fast täglich telefoniert. Es war sehr schwierig für ihn, er konnte sich nicht abfinden. Er
     wollte mich nicht gehen lassen.«
    »Und ausgerechnet an diesem einen Abend   …«
    »Bin ich verdächtig?«, unterbricht sie ihn, und Klaus zögert, weil er sie nicht anlügen, aber eben auch nicht verschrecken
     will. »Es gibt einige Ungereimtheiten«, sagt er schließlich viel vorsichtiger, als es angebracht gewesen wäre, und dann nimmt
     Pilar (die er innerlich längst nur noch bei ihrem Vornamen nennt) seine Hand.
    Es durchfährt ihn wie ein elektrischer Schlag.

PILAR
    Wie alle Kinder hat Pilar früher vom Fliegen, Fliehen und Fallen geträumt. Manchmal wollte sie vor einer undefinierbaren Gefahr
     davonlaufen, und kam so langsam voran, als müsse sie sich durch transparenten Sirup kämpfen, manchmal schwebte sie wie ein
     Vogel über einer zerklüfteten Landschaft aus Stein und Sand, manchmal konnte sie morgens das Haus nicht verlassen, weil Strümpfe,
     Rock, Bluse und Blazer ihrer Schuluniform verstreut in allen Zimmern lagen und es immer ein Teil gab, das sie nicht finden
     konnte.
    Jetzt ist Pilar erwachsen, und ihre Träume sind seit vielen Jahren graue, schwarze oder rote, monochrome Flächen, die sich
     ins Endlose dehnen oder zu kippen scheinen. Keine Menschen, keine Landschaften, nichts, was lebt. Das ändert sich erst nach
     Pauls Tod, denn seitdem sieht sie in ihren Träumen sein Gesicht. Es ist reglos, als würde er schlafen, und sie hat endlich
     alle Zeit der Welt, ihn zu mustern, berührt das dichte blonde Haar, das am Ansatz einen Wirbel bildet, die beiden Querfalten,
     die sich mittig über die Stirn ziehen, die seltsam formlosen Augenbrauen, die mit Sommersprossen gesprenkelte Nase, klein
     wie bei einer Frau, den schmalen, scharf geschnittenen Mund, der sich an den Winkeln leicht nach oben biegt, und jetzt streng
     und unpersönlich wirkt. In diesen Momenten ist sie glücklich und fühlt sich Paul sehr nah, gleichzeitig erfüllt sie eine tiefe
     Traurigkeit wie eine Vorahnung. Sobald sie wach wird, verschwimmen seine Züge,verlieren ihren inneren Zusammenhang, lösen sich auf in nichtssagende Details, und dann muss sie weinen, aber nur kurz, nicht
     lange genug für das, was er ihr bedeutet hat.
    Sie beginnt, Paul zu vergessen. Das geht schnell, und sie weiß, es ist ein Prozess, der sich nicht verhindern, nicht einmal
     verlangsamen lässt. Sie weiß das aus Erfahrung, weil sie bislang alle vergessen hat, die ihr das Leben entrissen hat, sowohl
     ihren ermordeten Vater, als auch Freunde, die aus ihrem Leben verschwanden. Und nun ist Paul an der Reihe, sich aus ihrem
     Gedächtnis zu verabschieden. In ihren Gedanken ist er weiter präsent, aber ihre Gefühle beginnen, ihn abzustoßen wie fremdes
     Gewebe; immer seltener tauchen Szenen auf, die ihn lebendig werden lassen, sein Lachen und seine Stimme wieder gegenwärtig
     machen, die Art, wie er »mein Schatz« sagte, mit einem sehnsüchtigen, ein wenig pathetischen Tremolo in der Stimme, als sei
     sie unendlich wertvoll und gleichzeitig unerreichbar, was sie zum Schluss für ihn ja auch gewesen war, unerreichbar.
     
    Pilar sitzt im Lehrerzimmer über ihre Unterlagen gebeugt, in der Hoffnung, beschäftigte Unnahbarkeit zu signalisieren, während
     draußen große Pause ist und der übliche höllische Lärm aus schrillen Mädchenstimmen und röhrenden Jungskehlen herrscht, den
     sie längst nicht mehr als solchen wahrnimmt, selbst wenn wieder einmal jemand gegen die geschlossene Tür rumst, dabei vor
     Vergnügen kreischt und sich auf quietschenden

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