Wer Schuld War
Sohlen entfernt, meistens mit jemandem im Schlepptau, der »Arschloch!« oder
Ähnliches brüllt und sich dann seinerseits gegen die Tür wirft. Eine junge und noch neue Kollegin hat sich neben Pilar an
den langen Konferenztisch mit der zerkratzten Pressspanplatte gesetzt. Pilar muss sie nicht ansehen, um zuspüren, dass die Kollegin Hilfe oder wenigstens Zuspruch braucht. Das Problem ist, dass sie sich untereinander nicht helfen
können, jeder steht alleine vor seiner mehr oder weniger gefürchteten Klasse, muss irgendwie zurechtkommen, sich seine eigenen
Regeln schaffen. Pilars Regeln dienen beispielsweise dazu, ihre Schüler mögen zu können, ohne mit den Jahren zynisch zu werden
oder vor lauter enttäuschter Zuneigung seelisch zugrunde zu gehen – ein kaum zu bewältigender Balanceakt. Denn manchmal scheint
es einfach keine Alternative zu sarkastischer Distanz und innerem Desaster zu geben. Dann verzweifelt Pilar, wie die anderen
Kollegen auch, an der Wildheit ihrer Schüler, ihrer überschießenden Fantasie und ihrem fatalen Talent, in grenzenloser Verwirrung
immer das zu tun, was nirgendwohin oder direkt ins Unheil führt.
»Störe ich Sie?«
Pilar sieht hoch. Die neue Kollegin unterrichtet Erdkunde und noch ein anderes Fach, welches, ist Pilar wieder einmal entfallen.
Deshalb versucht sie, doppelt freundlich zu sein, fragt lächelnd: »Was gibt es denn, Gaby?«, und stellt erschrocken fest,
dass die Neue nasse Augen hat, die kurz vorm Überfließen sind. Und das schon jetzt, nach nur ein paar Wochen. Kein gutes Zeichen,
denkt Pilar, während sie weiterhin ermutigend lächelt und dabei die Kollegin unauffällig mustert, abcheckt, ob sie hier bestehen
kann oder scheitern wird. Gaby ist Ende zwanzig, dunkelblond, mittelgroß, und wirkt eigentlich nicht wie jemand, der sich
sofort ins Bockshorn jagen lässt. Sie hat helle, breite Lippen und etwas hervorstehende blaue Augen, sie trägt enge Jeans
und einen beigen Rollkragenpullover, der bis knapp zum Bund geht, vielleicht etwas zu kurz, aber noch im Rahmen dessen, was
hier möglich ist. »Was ist passiert?«, fragt Pilar,während sich Gaby schnäuzt und dabei mühelos einen Nachschub an dicken Tränen produziert, als sei etwas in ihr undicht. Also
fügt Pilar: »Kann ich dir helfen?«, hinzu, und das sehr sachlich, denn zu viel Anteilnahme öffnet die Schleusen des Selbstmitleids,
und Gaby darf sich nicht leidtun, überall, aber nicht hier, sonst kann sie gleich nach Hause gehen.
»Ich habe ein Problem«, sagt Gaby schließlich und schnäuzt sich ein zweites Mal, als Pilar tröstend »Das denken am Anfang
alle«, sagt, während ihr Blick beinahe magisch von einem Hautfetzen angezogen wird, der sich von Gabys gebräunter und nun
geröteter Nase schält.
»Alle werden aber nicht von drei baumlangen Idioten verfolgt, die sich Skimützen übers Gesicht gezogen haben.«
»Wie bitte?«
»Vielleicht ist das ja ganz normal hier.«
»Du wirst von Schülern verfolgt? Wo? Wann? Welche Schüler?«
Gaby streckt die Beine unter dem Tisch aus, zündet sich eine Zigarette an, obwohl das verboten ist, aber eben noch nicht ganz,
das ist erst fürs nächste Trimester geplant. Gaby zieht den Rauch tief ein, lässt ihn langsam hervorquellen, während ihre
geröteten Augen abwesend die gegenüberliegende Wand fixieren, an der die aktuellen Stundenpläne angebracht sind, neben einer
riesigen und schon stark angegilbten Collage aus Anzeigenschnipseln, Fotos und Sprüchen in Sprechblasen, die die Schüler einer
Abgangsklasse in einem rührenden und absolut einmaligen Akt kreativer Höchstleistung für die geschätzte Lehrerschaft hergestellt
haben. »Nach Schulschluss verfolgen sie mich zur U-Bahn . Ich weiß nicht, ob es Schüler sind, und schon gar nicht, ob es meine Schüler sind«, sagt Gaby schließlich, ohne Pilar anzusehen,
immernoch den Blick starr auf das Monstrum an der Wand gerichtet.
»Sie haben Skimützen auf und schreien ›Ich will dich ficken, schöne Frau‹. Solches Zeug.«
»Kannst du nicht die Stimmen erkennen?«
»Die klingen alle gleich.«
»Das musst du dir nicht gefallen lassen. Wir melden das, und dann begleitet dich ein Kollege zur U-Bahn und nimmt sie sich vor.«
»Ich will das nicht. Dann stehe ich da wie eine, die sich nicht allein durchsetzen kann.«
»Nun«, sagt Pilar, »das ist ja auch wahr, du bist eine Frau, und eine Frau kann sich nicht allein gegen drei Männer wehren.
Niemand wird dich
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