Wer Schuld War
deswegen für eine Versagerin halten.«
»Es sind ja keine Männer. Es sind Jungs. Ich könnte ihre Mutter sein. Jedenfalls fast.«
»Das ist egal. Wir sind keine Einzelkämpfer«, sagt Pilar, in dem Wissen, dass es nicht stimmt, aber in der Überzeugung, dass
es so sein sollte. »Sie dürfen uns so auch nicht wahrnehmen, sie müssen uns als Gemeinschaft sehen, die zusammenhält, für
sie und notfalls auch gegen sie.«
»Natürlich«, sagt Gaby mit einer Stimme, als würde sie kein Wort glauben, Pilar wechselt das Thema, fragt: »Wie funktioniert
denn der Unterricht?« Gaby überrascht sie und sagt: »Sie sind ziemlich laut, und an vielen rede ich vorbei. Aber es ist weniger
schlimm, als ich gedacht habe.« Ihre Tränen scheinen zu versiegen, was Pilar erleichtert aufatmen lässt, denn schon füllt
sich das Lehrerzimmer mit weiteren Kollegen, die nur darauf warten, dass jemand Schwäche zeigt.
»Wer zu laut ist, fliegt aus der Klasse, denk daran.«
»Sicher.«
»Coolness ist das Zauberwort.«
»Ja.«
»Du musst ihnen das Gefühl geben, dass dich nichts schockiert, dass du immer einen Schritt weiter bist als sie, dann kannst
du sie überraschen, statt umgekehrt.«
Gaby beugt sich über den Tisch, macht dabei den Blick frei auf eine kleine Tätowierung unterhalb der linken Niere, die aussieht
wie ein Delfin, und zieht, ohne zu fragen, den Aschenbecher des Kollegen Brenningdörfer auf ihre Seite. Zur großen, aber stillen
Empörung Brenningdörfers, der wie so viele andere Lehrer hier kurz vor der Pensionierung steht, nur mit einem spricht, wenn
es sich nicht vermeiden lässt, und jetzt ein finsteres Gesicht macht, das Gaby ignoriert. Sie drückt ihre Zigarette aus, lehnt
sich mit verschränkten Armen an den Tisch, sagt ein zweites Mal »Danke« und schaut Pilar resigniert an. Pilar fällt auf, dass
sie eine Menge Make-up aufgetragen hat, das sich nun streifig auf den Wangen absetzt, viel mehr, als in ihrem Alter notwendig
wäre. Auch eine Art, sich zu schützen. Pilar schiebt ihre Unterlagen für die nächste Stunde zusammen und ist in Gedanken schon
bei ihrer Klasse, denkt an Arkadij, der seit zwei Tagen unentschuldigt fehlt, und an Bajar, die sich seit Beginn des neuen
Schuljahrs übertrieben sexy anzieht und im Unterricht nur noch vor sich hindöst.
Ihre Kollegin zieht mit einer langsamen, fließenden Bewegung einen Handspiegel aus ihrer Hosentasche und mustert sich mit
hochgezogenen Brauen und gespitzten Lippen, murmelt vor sich hin, dass sie schrecklich aussehe, und Pilar, der jetzt beinahe
der Geduldsfaden reißt, sagt: »Gar nicht. Mach dir keine Gedanken. Ich fahre dich heute zur U-Bahn . In Ordnung?«
»Das musst du nicht.«
»Es liegt auf meinem Weg. Wirklich.«
»Danke. Das ist sehr nett.«
»Wir können das eine Weile so machen. Dann vergessen sie die Sache, und du hast deine Ruhe.«
Die Schüler mögen das Gedicht ›Der Zauberlehrling‹ – wie zu erwarten war. Aber es ist trotzdem immer wieder ein Experiment,
sie damit zu konfrontieren, und immer wieder schön, wenn es gelingt, wenn sie das Meiste verstehen, an den richtigen Stellen
lachen, sich über den Besen amüsieren, der sich selbstständig macht, Ideen produzieren, wie man den Stoff verfilmen könnte,
übersprudeln vor Fantasie und Leidenschaft. Dafür liebt Pilar sie eine Stunde lang, um dann sich einzugestehen, dass diese
wundervollen Begabungen kaum einem von ihnen etwas nützen werden, und dann ergriffen zu sein von ihrer vertrauten Traurigkeit,
dem Gefühl totaler Vergeblichkeit.
Nachdem sie Gaby an der U-Bahn abgesetzt hat, fährt sie ziellos durch die Straßen, wie sie es manchmal tut, wenn sie die Zeit des Alleinseins ausdehnen
will, leere Stunden, in denen sie keine Erwartungen erfüllen muss, nicht einmal ihre eigenen. Aber dann, viel zu früh, holt
sie das Leben doch wieder ein, und sie ruft zu Hause an, wo ihr Sohn für die Latein-Schulaufgabe lernen soll.
Natürlich
meldet sich niemand, weshalb sie voller Ärger und Wut Philipps Handynummer wählt und
natürlich
nur seine Mobilbox erreicht, auf der sie ihre übliche Nachricht hinterlässt, dabei ihre eigene gereizte Stimme im Ohr hat
und sich hasst für ihren bemüht beherrschten, aber eben doch hörbar ärgerlichen, ja sogar weinerlichen Unterton.
Nicht nur Lehrerinnen, auch Mütter müssen heutzutage cool sein, ruhig und stark, unbefangen und lässig und in der richtigen
Dosierung streng und konsequent.
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