Wer Schuld War
gewesen und aus unerfindlichen Gründen irgendwann halb leer geblieben sind, weshalb Kunden wie
diese einen langen, öden Abend retten.
Reinhard und Gina werden von der Gruppe bereits als das Paar wahrgenommen, das sie erfahrungsgemäß niemals sein werden, aber
der Alkohol legt kritische Reflexe lahm, macht die Gesichter milde und die Herzen optimistisch. Warum sollte nicht doch einmal
möglich sein, was normalerweise nie passiert: Gina lernt einen passenden Mann kennen, und es endet nicht in einer wie auch
immer gearteten Enttäuschung. Und so lässt Gina, ungewohnt optimistisch, ihre Blicke über den Tisch schweifen und entdeckt
Barbara am anderen Ende, die Gina nicht beachtet, sondern in ein Gespräch mit einer Frau vertieft scheint, die sich später
als die Schwester der Galeristin entpuppt.
Am Tisch wird diskutiert über den Zusammenhang zwischen Kunst und Liebe und dem Schönheitsbegriff des einundzwanzigsten Jahrhunderts,
und schließlich landet man beim Sinn der Malerei in einer Zeit der digitalen Vervielfältigung. Dann zitiert jemand zu Ginas
Ärger einen viel berühmteren Kollegen, der seine Bilder angeblich einmal mit Pilzen verglichen hat, die aus dem feuchten Waldboden
wachsen. Prompt kommt die »Siehst du das auch so?«-Frage, und sie antwortet: »Natürlich nicht«, während ihre Stimme schärfer
klingt als beabsichtigt. »Künstler reden manchmal so dummes Zeug, weil sie wissen, dass es interessant klingt.«
»Aber wie ist es dann?«, fragt sie eine rothaarige Frau, die ihr gegenübersitzt und die Gina nicht kennt, wie sie sich plötzlich
überhaupt als Fremde fühlt, und das ausgerechnet auf einer Veranstaltung, die ihr zu Ehren stattfindet. »Wie ist das«, insistiert
die Frau, »wenn sich etwas auf deiner Leinwand materialisiert?«, und Gina denkteinen Moment lang nach, bevor sie einfach formuliert, was ihr schon so lange im Kopf herumgeht. »Es ist schön, ein schönes
Gefühl ….« Sie stockt; ihre Zunge fühlt sich schwer an, aber nun ruhen alle Blicke auf ihr, und sie kann nicht mehr zurück, also
macht sie weiter. »…dann ist es auch wieder schwer, denn am nächsten Tag sieht ein Bild dann wieder ganz anders aus, weil
sich entweder die Lichtverhältnisse verändert haben oder du selbst nicht mehr dieselbe bist, und dann ist das Bild vielleicht
nicht mehr so, wie du es dir vorgestellt hast. Wie es in deinem Kopf schon fertig vorhanden war. Und dann fragst du dich,
wann das reale Bild endlich so sein wird, dass es dem Bild in deinem Kopf wenigstens ähnlich ist, und irgendwann erkennst
du: Nie, es wird nie so sein, wie du es gerne hättest, es ist immer irgendwie verpfuscht.«
Gina lacht und ihr Gegenüber ebenfalls, vielleicht erleichtert, dass sie nur Spaß gemacht hat, dabei ist alles, was sie gesagt
hat, so wahr wie selten etwas. Manchmal tut diese Wahrheit weh, aber nicht heute Abend. Heute Abend ist alles sehr angenehm,
keine weiteren Verletzungen in Sicht, und sie wendet sich Reinhard zu, der seinen Arm um sie gelegt hat und im Nacken mit
ihren dunklen Locken spielt. Gina lächelt, und er küsst ihr Ohr. Alles scheint sehr leicht zu sein, und dieses Gefühl hält
an, erstaunlicherweise, bis Gina das Vibrieren des Handys an ihrer rechten Pobacke spürt und sich behutsam von Reinhard losmacht,
und ihm zuflüstert, dass sie gleich wiederkäme.
Auf dem Weg zur Toilette fischt sie ihr Telefon aus der Hosentasche und erkennt die Nummer, die sie wohlweislich nie eingespeichert
hat. Sie drückt auf den Knopf, der die Verbindung unterbricht, bevor sie aufgebaut werden kann, aber dann beginnt es eine
Minute später erneut zu vibrieren, und diesmal hebt sie ab.
»Wir hatten ausgemacht, dass wir nicht mehr telefonieren«,sagt sie in den Hörer hinein, unfreundlich, aber leise, weil man nie weiß, wer sich sonst noch hier aufhält. Sie schließt
die Kabine hinter sich ab und setzt sich auf den perlmuttfarben schimmernden Klodeckel. »Ich will nicht, dass du mich anrufst«,
sagt sie in das atmosphärische Rauschen hinein, aber sie legt diesmal nicht auf, noch nicht, obwohl sie genau weiß, dass sie
das sollte.
MANUEL
Das Flugzeug der Qatar Airlines fliegt in einen strahlend roten Morgen hinein, zarte Schleierwölkchen verdecken den Bogen
der aufgehenden Sonne, und eine fürsorgliche Stewardess zieht Manuel die heruntergerutschte Decke wieder über die Schulter,
während Manuel von seinem Vater träumt, der vor zehn Jahren in
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