Wer Schuld War
Griechenland ertrunken ist, an einer höchstens brusttiefen
Stelle in einer stillen Bucht bei glatter See. Die Obduktion hatte damals weder einen Herzinfarkt noch einen Schlaganfall
ergeben; organisch war er vollkommen gesund, aber seine Lunge war voller Salzwasser. Über die Ursache konnte man nur rätseln;
vielleicht hatte es einen Wirbel oder eine Welle gegeben, die ihn irritierte, vielleicht ist er auf einen Krebs oder eine
scharfkantige Muschel getreten. Sicher ist, dass ihn etwas so erschreckt haben muss, dass er unterging und das Salzwasser
nicht nur schluckte, sondern panisch einatmete. Eine mögliche Erklärung dafür lautet, dass sein Vater sein Leben lang Angst
vor Wasser hatte, und dass sich das Wasser nun, im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, rächte.
Manuel träumt von der Beerdigung, von den vielen weinenden Menschen, von den Schülern seines Vaters, die am Grab singen, und
dann befindet er sich plötzlich in dem verwaisten Arbeitszimmer und räumt gemeinsam mit seiner Mutter all die Dinge aus, die
sein Vater, ein besessener Sammler, nicht wegwerfen konnte. Sie arbeiten schweigend, Seite an Seite, versinken in Bergen von
ausgeschnittenenZeitungsartikeln aus den letzten dreißig, vierzig Jahren, fühlen sich umstellt von Ordnern voller angefangener Zeichnungen,
Skizzen und krakeligen, kaum lesbaren Notizen auf vergilbtem linierten Papier, das sein Vater säuberlich aus Ringblöcken und
Schulheften herausgetrennt hat, und dann beginnt, in einem dieser stillen Momente, die Wanduhr zu ticken. Sie ist vor Jahren
stehen geblieben und nie wieder aufgezogen worden, aber jetzt tickt sie, unerklärlich, unüberhörbar, gespenstisch, und Manuel
erstarrt, während seine Mutter anfängt zu weinen, und sagt, dass sie Angst habe, sagt: »Ich glaube, er will mich holen.« Manuel
zuckt zusammen und wacht auf, schwitzend und mit einem schlechten Geschmack im Mund, während sich das Dröhnen der Triebwerke
in seinen Kopf zu bohren scheint, die aufgehende Sonne ihn blendet.
Sein Vater will seine Familie wieder um sich haben. Er verfolgt Manuel bis in seine Träume, weil er sich langweilt, so ganz
allein in der Ewigkeit.
Manuel sieht auf die Uhr und stellt fest, dass sie in circa einer Stunde landen werden, also sucht er schlaftrunken nach dem
Knopf, der seinen Sitz wieder aufrichten soll, aber die Stewardess steht bereits neben seinem Platz und erledigt das für ihn.
»Did you sleep well?«, fragt sie, und er antwortet automatisch: »Yes. Thank you.« Sein Englisch, denkt er, ist in Ordnung,
reicht für berufliche Belange vollkommen aus, auch wenn er seinen harten deutschen Akzent nicht mehr loswerden wird, aber
wen kümmert es schon, wie er redet, die Hauptsache ist doch, dass er verstanden wird. Die Stewardess lächelt jedenfalls und
reicht ihm mit einer eleganten, fast sinnlichen Bewegung eine Frühstückskarte. Überhaupt findet Manuel sie in seinem unwirklichen
Zustand zwischen Wachsein und Schlaftrunkenheit sehr schön undüberlegt eine Sekunde lang, wie es wäre, sie näher kennenzulernen, dann lässt er den Gedanken wieder fallen, vergisst, dass
er ihn je gehabt hat und legt die Frühstückskarte achtlos auf den leeren Sitz neben sich. Er starrt in den blassblauen Himmel,
denkt an seinen Vater, anschließend an Paul, dann an Barbara und fühlt sich plötzlich umzingelt von Tod und Vergänglichkeit.
Wie aus dem Nichts überfällt ihn eine unglaublich farbige und detaillierte Erinnerung an Paul, obwohl er sich nicht einmal
viel aus ihm gemacht hat. Während Barbaras Gedächtnis eine baufällige Baracke ist, mit kaputten Möbeln und klaftertiefen Rissen
in den Böden und Wänden, präsentiert sich seins als perfekt ausgebautes, mittlerweile etwas überfülltes Haus, in dem jedes
Schräubchen an der richtigen Stelle blinkt. Oft macht ihn das stolz, die Ordnung in seinem Kopf, mit all den beschrifteten
Schubladen, in die er jederzeit hineingreifen kann, manchmal ist es aber auch eine Belastung, nichts vergessen zu
können
, sich an alles erinnern zu
müssen
, immer randvoll zu sein mit Erinnerungen an die Vergangenheit. Wie zum Beispiel dieser Urlaub mit Paul, der zwei Jahre zurückliegt
und Manuel rein gar nichts bedeutet hat, und den er plötzlich trotzdem wieder vor Augen hat, als sei das alles erst gestern
passiert. Vielleicht ist ja genau das die Erklärung dafür (eine absurde Idee, aber plötzlich kommt sie ihm logisch vor), dass
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