Wer Schuld War
so mit Ihnen reden.«
»Warum, wie reden Sie denn mit mir?«
Er lächelt und antwortet nicht. Dann erkundigt er sich plötzlich mit beinahe beleidigender Sachlichkeit nach dem Konzept ihrer
Malerei: »Haben Sie ein Konzept?«, fragt er in inquisitorischem Ton, als bestünde der begründete Verdacht, dass sie ins Blaue
malt, konfus, improvisiert, ohne Plan und Ziel.
»Natürlich«, sagt Gina.
»Warum diese puppenhaften Schönheiten, diese geradezu unzulässig idealisierte Form von Weiblichkeit? Werdet ihr nicht schon
genug terrorisiert vom Schönheitswahn?« Es klingt beinahe zornig, und Gina denkt, dass er möglicherweise schon sehr viele
schöne Frauen gesehen hat, die es nicht mehr sind, sobald sie auf seinem Behandlungsstuhl Platz genommen und ihren Mund aufgemacht
haben. Unwillkürlich stellt sie sich den Anblick schwärzlicher, fleckiger, kariöser Zähne vor und erinnert sich an ihr eigenes
Schaudern, sobald der Arzt begonnen hatte, sich mit seinem kleinen Spiegel in ihrer Mundhöhle zu schaffen zu machen. Sie denkt
an dicke, kurze Finger in gelblichen Latexhandschuhen, an denenReste ihres Lippenstifts klebten, und dabei wird ihr beinahe übel.
Sie nimmt sich zusammen.
»Bilder sind immer der Ausdruck einer Sehnsucht«, sagt sie schließlich.
»Sie sehnen sich nach Perfektion?«, fragt er zurück.
»So einfach ist es auch wieder nicht.«
»Ach, nein?«
»Nein. Aber wenn Sie wollen, erkläre ich Ihnen mein Konzept.«
Er schweigt einen Moment lang.
»Sind Sie Masochistin?«, fragt er dann.
»Gott hat die Welt aus Sehnsucht erschaffen, aus der Sehnsucht, erkannt zu werden. Die Werbung hat diese Sehnsucht missbraucht,
der Begriff der Schönheit wird insgesamt andauernd missbraucht. Meine Bilder spielen mit dieser Erkenntnis, sie provozieren
und machen Angst, und Angst führt zur Erkenntnis. Mir geht es um die Darstellung des Weiblichen in den Medien und um moderne
Liebeserfahrung und Körpererfahrung der Frau.«
»Sie kritisieren den Schönheitswahn. Das kann jeder behaupten, auch jeder Werbefotograf, der seine Bilder anschließend am
Computer bearbeitet, damit der Teint noch glatter und fehlerloser wird.«
»Ich kritisiere nicht, ich zeige, was ist. Mein Ausgangspunkt ist die These, dass die Kunstgeschichte zugleich eine Geschichte
des Leibes ist.«
»Die Geschichte des Leibes?«
»Alle Künstler haben sich in der Abbildung des Leibes versucht, den verschiedenen Texturen der Haut, den Millionen von Schattierungen,
die in der Folge eine Haltung oder einen Schmerz wiedergeben.«
»Ich würde Sie gerne wiedersehen.« Und Gina spürt, dass diese Bemerkung nicht ganz ehrlich ist, vielleicht bloßden Wunsch ausdrückt, dass sie aufhören soll, seltsames Zeug zu reden, das er nicht versteht. Aber sie schiebt diesen Gedanken
weg, denn er ist nicht gut für sie, und an diesem einen Abend will sie nur das tun, was gut für sie ist. Was sie nicht verhindern
kann, ist, dass ihre Stimme um eine Nuance härter, ironischer wird.
»Noch bin ich ja da.«
Sie stehen sehr dicht zusammen, während die Menge um sie herumwogt, und Gina fühlt den dringenden Wunsch, etwas zu trinken,
noch mehr Wodka, um den Rausch nicht abebben zu lassen, auf dessen Welle sie surft, und sie löst ihren Blick von dem Mann,
dessen Namen sie vergessen hat, weil seine Gegenwart ihre Gedanken auf ein einziges Ziel fokussiert. Vielleicht wäre jetzt
gleich etwas passiert, aber in diesem Moment sprengt Barbara den magischen Kreis.
»Mein Freund hat mich verlassen«, teilt Barbara mit schwerer Stimme niemand Bestimmtem mit, während sich Gina wieder an den
Vornamen des Zahnarztes erinnert; er heißt Reinhard. Reinhard sieht Barbara an und wartet ab, was Gina jetzt unternimmt, um
diese Situation zu bereinigen. Aber bevor Gina etwas machen kann, stößt die Galeristin zu ihnen und stellt eine ältere Frau
vor, die nach Geld aussieht, und Gina lächelt erst Reinhard und dann Barbara entschuldigend an, bevor sie sich der Galeristin
und ihrer möglichen Kundin widmet.
Eine Stunde später sitzen sie zu zwölft im »Jules«, links neben Gina sitzt Reinhard, der Zahnarzt, zu ihrer Rechten ihre Galeristin,
die, wie alle in der Runde, ziemlich beschwipst ist, während die Kellner erst misstrauisch die laute, extrem lustige Runde
beäugen und dann immer freundlicher werden, als die Bestellungen nur so auf sie niederprasseln. Immerhin gehört das »Jules«
zu den vielenLokalen, die einmal angesagt
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