Wer Schuld War
und zum Friedhof zu fahren, um Paul die letzte Ehre zu erweisen.
»Alles okay?«, fragt Gina. »Du klingst so müde.«
»Nein, gar nicht.« Barbara ist schon daran gewöhnt, dass man bei Gina nie so genau weiß, wie sie was meint, ob und wem sie
gerade eine reinwürgen will und warum. Fast automatisch greift sie zu einer Zigarette, obwohl sie morgens eigentlich nicht
raucht, aber was gelten schon Pläne und Vorsätze in Ausnahmesituationen. »Und bei dir?«
»Schrecklich!« Ginas Stimme klingt ihr unangenehm blechern ins Ohr, völlig übertrieben und falsch, wie bei einer dieser Schauspielerinnen,
die es gerade noch in Vorabendserien für Greise und Grenzdebile schafft. »Ich habe keine Sekunde geschlafen!«
»Echt?«
»Ja. Es ist so furchtbar!« In Wirklichkeit hört es sichüberhaupt nicht so an, als fände Gina irgendetwas furchtbar, eher, als würde sie eine kindliche Aufregung unterdrücken, und
wenn man ehrlich ist, geht es Barbara nicht viel anders.
Paul, der einen noch vor zwei Wochen stundenlang vollgejammert hatte, weil sich Pilar nicht mehr mit ihm treffen wollte, Paul,
den man mochte und liebte, aber nie so richtig für voll genommen hat, ist einfach so gestorben. Barbara weiß selbst nicht,
wie sie sich verhalten soll, was sie fühlt. Der Tod ist noch ein seltener Gast in ihrer Welt, lässt höchstens eine Ahnung
von ewiger Einsamkeit aufkommen. In den letzten Nächten ist Barbara manchmal aufgeschreckt mit Pauls Gesicht vor Augen. Er
hat dabei ausgesehen wie jemand, der sich schrecklich allein fühlt. Also sagt sie zu Gina »Ich habe von Paul geträumt«, obwohl
sie das eigentlich niemandem erzählen wollte. Plötzlich ist alles anders als noch vor ein paar Sekunden, stört sie der Rauchgeruch,
geht sie mit dem Hörer in der Hand zur Balkontür und macht sie auf, schnippt die halb gerauchte Zigarette in den Hof, einfach
über das Balkongeländer, ohne nachzusehen, ob da unten jemand herumläuft, und das nur, weil ihr die Idee gefällt, dass sich
Manuel darüber ärgern würde.
»Wirklich?«, fragt Gina währenddessen, und man hört, dass sie jetzt auch raucht. »Und was hast du geträumt?«
»Ich habe nur sein Gesicht gesehen. Als wollte er was sagen.«
»Und hat er was gesagt?«
»Ich glaub nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
Sie hört Gina am anderen Ende seufzen, was wieder theatralisch klingt, aber vielleicht steckt ja tatsächlich etwas dahinter,
irgendein echtes Gefühl. »Wie konnte das nur passieren?«
Warum ist Gina eigentlich ihre Freundin?
»Ich weiß auch nicht. Er hatte hohen Blutdruck und dann der Schlaganfall …«
»In seinem Alter!«, ruft Gina.
»Du meinst: in unserem Alter«, sagt Barbara. »Schlaganfälle kommen auch in unserem Alter vor.« Aber sie glaubt nicht wirklich
daran.
»Wann soll ich dich abholen?«, fragt Gina, nun wieder auf ihre normale, spröde Art.
»Halb elf?«
»Okay. Was ziehst du an?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht entscheiden. Irgendetwas … etwas Dunkles eben.«
»Na, davon hast du ja genug!«
Der Friedhof ist sonnendurchflutet, ein warmer Herbsttag, und Barbara schwitzt in ihrem schwarzen Donna-Karan-Kleid, das seit
mindestens fünf Jahren mehr oder weniger ungetragen in ihrem Schrank hängt, weil sie darin immer entweder geschwitzt oder
gefroren hat. Es liegt an dem Stretchstoff, der zu dick ist, während der Ausschnitt dafür zu tief ist, was Barbara beim Kauf
gar nicht einsehen wollte, obwohl Manuel ihr das gleich gesagt hatte. Barbara verlagert ihr Gewicht von links auf rechts,
ihre Absätze bohren sich in den frisch geharkten Kies, und durch die dünnen Sohlen spürt sie die scharfen Steinchen wie eine
Fußmassage. Sonst leider nichts, gar nichts, keine Trauer, keine Verzweiflung, nichts, außer einem unangenehm nagenden Gefühl
im Magen. Etwa zwanzig Gäste stehen in einem lockeren Halbkreis um das offene Grab. Neben ihr weint Gina, was Barbara stört,
weil sie Paul viel länger kannte als Gina und trotzdem ausgerechnet jetzt nicht weinen kann, obwohl sie ja nun wirklich Übung
darin hat. Sie legt den Arm um Gina und drückt sie leicht ansich. Ginas Blazer fühlt sich sonnenwarm an. Sie riecht nach Shampoo und Schweiß.
Ein Windstoß fährt durch die hohen Kastanien, als der Sarg langsam und mit scheuerndem Geräusch in die Grube gelassen wird.
Da begreift Barbara, dass sie Paul nie wiedersehen wird, dass es Paul einfach nicht mehr gibt, und dass man das nicht
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