Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
mir einen Schauder über den Rücken jagte. Doch es war keine Arbeit, vermutete ich, für die sich viele Freiwillige einfanden.
Anderthalb Stunden später in meinem Büro, nachdem ich meinen Mantel ausgezogen und meine Hemdsärmel hochgekrempelt hatte und mit dem Kopf über einer Wasserschüssel hing, um den Staub und den Geruch von diesem Morgen abzuwaschen, erhielt ich Carmichaels vorläufigen Bericht. Ich hob mein tropfendes Gesicht und wischte es mit einem Handtuch trocken, bevor ich die Blätter nahm, die mir ein Constable hinhielt.
Carmichaels Meinung bezüglich der Todesursache hatte sich nicht geändert. Er stand vor einem Rätsel, weil der Körper der Toten keine Spuren von Mangelernährung aufwies, andererseits jedoch ihr Magen und Darmtrakt vollkommen frei von Nahrung in jedwedem Stadium der Verdauung waren. Sie hatte seit mehr als achtundvierzig Stunden vor ihrem Tod keinerlei Essen mehr zu sich genommen. Doch eine weit bedeutendere Entdeckung hielt Carmichael bis zum letzten Satz seines Berichts zurück. Es konnte sich durchaus als ein Motiv für den Mord an der Unbekannten erweisen.
KAPITEL VIER
Elizabeth Martin
Nicht weiter überraschend schlief ich nach einem langen und anstrengenden Tag tief und fest. Ich hörte nicht, wie Frank nach Hause kam. Allerdings war ich immer eine Frühaufsteherin gewesen, und ich erwachte wie üblich gegen sechs Uhr morgens.
Mein Instinkt war, aus dem Bett zu springen und mich an meine Hausarbeit zu begeben. Es war ein eigenartiges Gefühl, das nicht zu müssen, weil jemand anders sich darum kümmerte. Ich drehte mich also um und versuchte, noch einmal einzuschlafen, doch es war vergeblich. Nicht nur die Gewohnheit drängte mich zum Aufstehen, sondern auch der Lärm, der durch das Fenster drang, welches ich unten einen Spaltbreit offen stehen lassen hatte. Ich hörte die Geräusche der Großstadt, die zum Leben erwachte. Karren und Fuhrwerke rollten lärmend vorüber, und Arbeiter auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten riefen sich Grüße zu. Es bemühte sich noch nicht einmal jemand, leise zu sein. Dann hörte ich einen lauten Ruf: »Miii-hilch! Frische Miii-hilch direkt von der Kuuu-huh!«
Zu meinem Erstaunen folgte dem Ruf ein klagendes Muhen. Eine Kuh, mitten im modernen London? Ich wickelte mich aus den Laken, rannte zum Fenster, schob es nach oben, so weit es ging und beugte mich hinaus.
Und tatsächlich, unten auf der Straße stand eine Kuh, gehalten an derbem Zaumzeug von einem Jungen. Es war ein niedergedrücktes Tier mit stumpfem Fell und Rippen, die hervorstanden wie die Drähte eines Toasthalters. Ich beobachtete, wie ein junges Mädchen mit einer übergroßen Morgenhaube und Schürze und einem bauchigen Krug in den Händen die Kellertreppe unseres Hauses hinaufeilte. Sie sprach zu einer Frau, die neben der Kuh stand und einen kleinen dreibeinigen Hocker in der Hand hielt. Die Frau stellte den Hocker neben die Kuh, setzte sich darauf und begann, das Tier zu melken. Die Milch spritzte in ein Metallgefäß, das eine Art Messbecher zu sein schien. Als er voll war, erhob sich die Frau wieder und goss den Inhalt des Messbechers in den Krug, den das Mädchen ihr hinhielt. Eine Münze wechselte den Besitzer. Die Dienerin trug den Krug vorsichtig wieder hinunter in das Souterrain, und die Kuh mitsamt ihrer Begleitung trottete weiter. Einige Minuten darauf ertönte der Ruf »Miii-hilch! Frische Miii-hilch!« aus der nächsten Straße, gefolgt von dem schwermütigen Muhen des armen Tiers, das auf diese Weise herumgeführt wurde.
Ich wandte mich vom Fenster ab und schaute mich im Zimmer um. In einer Ecke war ein Toilettentisch, und ich schätzte, dass irgendwann heißes Wasser nach oben gebracht werden würde, doch ich hatte keine Ahnung wann. Jetzt noch einmal ins Bett zu gehen, kam überhaupt nicht in Frage. Ich beschloss, dass ich wenigstens nach unten gehen und das Haus erkunden könnte. Rasch zog ich mich an und trat leise hinaus in den Gang.
Niemand war hier oben bereits unterwegs oder, soweit ich sehen konnte, im Erdgeschoss. Die Diener mussten alle im Souterrain sein, aus dem ich die Dienerin mit dem Krug hatte kommen sehen. Sie frühstückten wahrscheinlich gerade. Salon und Speiseraum waren leer. Ein weiteres kleines Zimmer im hinteren Teil des Hauses ließ mich vermuten, dass dort später am Vormittag das Frühstück serviert wurde. Fleischtabletts, Untersetzer für heiße Schüsseln und ein Heißwasserbad standen auf einem langen Sideboard aus Eiche.
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