Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
bei seinen Operationen erfolgreicher ist als der Rest, weil er alles und jedes in seinem Saal einschließlich den Unglücklichen auf seinem Tisch mit Karbolsäure besprüht. Der Grund dafür ist, dass er glaubt, irgendwelche für das bloße Auge unsichtbare Organismen wären an der Ausbreitung von Infektionen schuld. Die Vorstellung von diesen winzigen Organismen rührt aus den Arbeiten irgendeines Franzosen, wenn ich mich recht entsinne. Doch der tapfere Carmichael war vom alten Schlag, und ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass er Karbolsäure versprühend an die Arbeit ging. Andererseits waren seine Patienten samt und sonders bereits tot.
Die Leichenhalle, zu der man die Tote gebracht hatte, war die dem Fundort am nächsten gelegene und befand sich im beengten Anbau eines Bestattungsunternehmers. Die sterblichen Überreste der respektableren Kundschaft dieses Bestatters lagen in einer angemesseneren Umgebung eine Tür weiter.
Unsere unbekannte Frau lag auf dem abgeplatzten Porzellantisch, weit abseits und außer Sicht der Trauernden, die jene anderen Toten besuchten. Sie war nackt ausgezogen worden und erwies sich als winzig kleine Person, obwohl eine ausgewachsene Frau, kaum mehr als eins fünfzig groß und schlank gebaut. Ihre Haut erinnerte an Marmor von jener vielfarbenen Sorte, in der sich Rot, Rosa und Violett ineinander vermischten, bis auf eine Stelle über ihrem Bauch, die gleichmäßig grau-grün aussah. An ihrer linken Schläfe befand sich eine tiefe Wunde, und ihre Gesichtszüge waren so verzerrt, dass es unmöglich war zu sagen, ob sie hübsch gewesen war. Doch ihr langes hellblondes Haar lag rings um ihren Kopf herum ausgebreitet wie ein leuchtender Heiligenschein, unberührt von den Verheerungen der Zersetzung. Die kleinen, ebenmäßigen Zähne, die zwischen ihren geteilten Lippen hervorlugten, sahen nahezu perfekt aus. Ich betrachtete ihre Hände. Sie trug keinen Ehering, doch der konnte auch gestohlen oder entfernt worden sein, um eine Identifikation zu verhindern. Eheringe trugen nämlich nicht selten persönliche Gravuren. Die Finger selbst zeigten bereits deutliche Spuren von Zersetzung, doch die Nägel waren sauber. Meiner Meinung nach war sie keine Arbeiterin gewesen, sonst hätte sie rauere Hände gehabt und verfaulte oder gar fehlende Zähne, trotz ihres jugendlichen Alters.
»Wie alt?«, fragte ich Carmichael.
»Ich würde sagen Mitte zwanzig«, antwortete der Pathologe.
Wir alle redeten leise, als befänden wir uns in einer Kirche.
»Und wie lange ist sie schon tot?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das ist unter den gegebenen Umständen schwierig zu sagen. Länger als eine Woche, aber weniger als zwei vielleicht. Sagen wir, allerhöchstens zwei Wochen.«
Ich deutete auf die Kopfwunde, in der Fragmente des Schädelknochens durch die sich schälende Haut ragten. »Ist das die Todesursache? Was sagen Sie?«
»Dazu brauchen Sie mich wohl kaum«, entgegnete Carmichael auf seine trockene, präzise Art. »Ich bezweifle, dass die inneren Organe noch gut genug erhalten sind, um uns viel zu verraten. Selbstverständlich werde ich trotzdem eine sorgfältige Untersuchung durchführen, doch die Kopfwunde ist ohne Zweifel ernst genug, um als Todesursache in Frage zu kommen. Sie wurde mit einem schweren Gegenstand schlimm zugerichtet.«
»Wir haben am Fundort keine Waffe entdeckt, Sir«, meldete sich Morris zu Wort. »Ich habe eine sorgfältige Suche in der Umgebung durchführen lassen.«
Morris hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, doch er war für seinen Geschmack noch immer zu nah bei der Toten. Morris legte manchmal eine Prüderie an den Tag, die man bei einem Beamten mit seinen Dienstjahren und seiner Erfahrung nicht erwartet hätte. Das war mir schon früher aufgefallen. Er war ehrlich schockiert, nicht nur vom Anblick der Toten, sondern auch von dem Gedanken an die Schändung, die männliche Hände nun ihrem Leichnam zufügen würden. Jede Falte in seinem Gesicht und seine ganze Haltung verrieten, wie unwohl er sich fühlte.
»Die Baustelle ist voll mit möglichen Waffen«, sagte ich. »Jeder, der dort arbeitet, besitzt eine Schaufel oder eine Spitzhacke.«
Carmichael räusperte sich. »Meiner Meinung nach war die Waffe kein solches Werkzeug. Nach einer Untersuchung der Wunden durch ein Vergrößerungsglas würde ich sagen, dass die Wunde von einem langen, ziemlich schmalen Gegenstand verursacht wurde.« Er zog das Vergrößerungsglas aus der Tasche und reichte es mir. »Sehen
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