Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
geschenkt. Sie war eine molkegesichtige, kleine, provinzielle Null.«
»Genau wie ich!«, sagte ich in scharfem Ton.
»Oh nein, nein, nein, Lizzie. Du bist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Wie ich schon einmal gesagt habe, bist du intelligent, besitzt einen unabhängigen Geist und eine scharfe Beobachtungsgabe, und du bist außerdem gut aussehend.«
»Du willst mir nur schmeicheln«, stellte ich trocken fest.
»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte er nüchtern. »Alles, was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit. Ich würde fünf Guineas auf die ersten drei Punkte wetten, und den vierten sehe ich mit eigenen Augen.«
»Nur fünf Guineas?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
Frank zeigte triumphierend auf mich. »Da! Siehst du? Du bist geistesgegenwärtig und hast einen Sinn für Humor. Madeleine war nicht schlagfertig, ganz im Gegenteil, und sie war absolut bar jeden Humors. Man konnte sie foppen, wie man wollte – sie bemerkte den Scherz nie. Sie begriff nicht einmal, wenn man einen Scherz über sie gemacht hatte. Es machte keinen Spaß, und sobald mir das klar wurde, gab ich auf und verlor jegliches Interesse an ihr. Aber irgendjemand anders muss sich für sie interessiert haben, nicht wahr? Zumindest müssen wir inzwischen davon ausgehen.«
Ich sah, wohin dies führte, doch ich beschloss, einstweilen zu schweigen. Schließlich war er es, der das Gespräch auf dieses Thema gebracht hatte.
»Wir haben zwei Möglichkeiten, nicht wahr? Was sagst du, Lizzie? Entweder hat Madeleine diesen unbekannten Mann in unserem Kreis kennen gelernt, was so viel heißt wie, sie kannte ihn, weil er hier in diesem Haus lebt, oder sie ist ihm irgendwo anders begegnet. Aber wenn sie ihm irgendwo anders begegnet ist, dann wo? Du bist eine junge Lady, die neu in London angekommen ist, genau wie Madeleine Hexham. Du hast den Vormittag über frei, weil Tante Julia nicht vor Mittag nach unten kommt. Was würdest du mit deiner freien Zeit anfangen, und wohin würdest du gehen?«
»Bis jetzt war ich noch nirgendwo«, erwiderte ich. »Aber hast du nicht gesagt, Madeleine hätte Bücher aus einer Leihbücherei gelesen? Nun denn, also zur Leihbücherei. Vielleicht hat sie dort jemanden kennen gelernt.«
»Siehst du? Du bist ausgesprochen scharfsinnig, ich wusste es.« Frank nickte. »Aber das Gleiche gilt auch für diesen Inspector Ross. Er ist ein äußerst gerissener Bursche. Ich frage mich, ob er auch schon daran gedacht hat. Ich habe ihm von Maddies Geschmack erzählt, was Literatur angeht. Er hat wahrscheinlich einen seiner Beamten in Zivil in jede Leihbücherei in der gesamten Umgebung geschickt, um jeden zu notieren und zu beobachten, der Eine Romanze über Grenzen oder Die Braut des Korsaren und ähnlichen Mist ausleiht.«
Ich schwieg weiter, doch diesmal, weil mir ein Gedanke gekommen war, der mir eigentlich sogleich hätte kommen müssen und der mir dummerweise nicht eingefallen war. Ich musste Tante Parry bei der nächsten Gelegenheit sagen, dass ich Inspector Ross schon früher begegnet war und dass mein eigener Vater die Ausbildung des Beamten bezahlt hatte. Dieses Wissen vor ihr zu verbergen, wäre nicht nur unfair, sondern auch unklug, sollte es später ans Tageslicht kommen. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass ich es Frank erzählen musste, wenigstens nicht, bevor ich es nicht seiner Tante anvertraut hatte.
»Du siehst sicher«, sagte Frank, der mein Schweigen falsch deutete, »dass ich weit oben auf der Verdächtigenliste des Inspectors stehen muss, nicht wahr? Mehr noch, er mag mich nicht.«
»Vielleicht bist du ihm gegenüber schlicht unfair«, schlug ich vor.
»Gütiger Gott, Lizzie! Ich weiß genau, wann ein Kerl mich nicht leiden kann, selbst wenn es nur ein Polizist ist, dieser unverschämte Mensch!« Nach einem kurzen Moment des Schweigens fügte er hinzu: »Ich hoffe doch sehr, du hast keine Abneigung gegen mich, Lizzie? Ich weiß zwar, dass du mein Verhalten missbilligst, aber das ist nicht das Gleiche.«
Er gab mir keine Gelegenheit zu einer Antwort; abgesehen davon hatte ich gar keine parat. Rasch fuhr er fort: »Ich halte dich vom Schlafen ab. Bitte, verzeih mir. Gute Nacht, Lizzie.« Er stand auf und verneigte sich höflich.
Ich erhob mich ebenfalls. »Gute Nacht«, sagte ich genauso höflich.
Als ich die Tür hinter mir schloss, sah ich durch den kleiner werdenden Spalt, dass er den Gedichtband zur Hand genommen hatte und durchblätterte. Ich dachte bei mir, dass er zwar
Weitere Kostenlose Bücher