Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
aus der normalen Gesellschaft herausgeschlüpft war und sich an ihrem Rand herumtrieb oder in Londons blühender Unterwelt. Sie überlebten durch Gelegenheitsarbeiten hier und dort, genug, um sich ein Bett in einer billigen Unterkunft und eine Mahlzeit zu verdienen. Baustellen boten Leuten von dieser Sorte reichlich Arbeit. Doch nicht alle Männer waren Spitzbuben und Vagabunden, die es nicht besser wussten. Viel wahrscheinlicher waren sie einst respektabel gewesen und in Ungnade gefallen, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht waren Ehemänner unter ihnen, die Frau und Kinder verlassen hatten. Manche waren womöglich ehemalige Bankangestellte, die sich durch Spiel oder Trunksucht ruiniert hatten. Oder erbärmliche kleine Geschäftemacher, die sich verspekuliert hatten und denen Gläubiger im Nacken saßen. London war eine Stadt, in der ein Mann völlig untertauchen konnte, wenn er nicht gefunden werden wollte. Unser Mörder verließ sich genau darauf. Doch er war irgendwo dort draußen, und ich würde ihn finden.
Die Vernehmung der Arbeiter war zwingend erforderlich, auch wenn ich sehr wohl wusste, welche Ergebnisse die Arbeit meiner Constables erbringen würde. Niemand in Agar Town würde zugeben, etwas gesehen zu haben, und ich konnte damit rechnen, dass Mr Fletcher, der Repräsentant der Eisenbahngesellschaft, mir früher oder später einen Besuch abstatten und sich bitter beschweren würde, dass die Arbeit erneut aufgehalten wurde.
Und so war es auch. Er traf am Freitagmorgen gegen halb zehn in meinem Büro ein. Wir waren noch dabei, den vor uns liegenden Tag zu organisieren, und ich hatte überhaupt keine Zeit für ihn. Ich empfing ihn trotzdem, wenngleich missgestimmt. Er schwitzte überreichlich. Der bis dahin graue Frühling hatte sich unversehens zum Besseren gewendet und lieferte einen launenhaften Vorgeschmack auf die Sommersonne. Ich vermutete, dass Fletchers Stirn zum einen von Schweißperlen bedeckt war, weil er von der Baustelle in Agar Town zum Scotland Yard gehastet war, doch mehr als das schien er außer sich vor Empörung.
»Das ist unerhört!«, krächzte er. Er setzte seine Brille mit den ovalen Gläsern ab und blinzelte mich an, bevor er sein fleckiges Taschentuch hervorzog und sich die feuchte Stirn abwischte. »Wir sind hinter dem Plan! Wenn die Baustelle nicht pünktlich geräumt ist, kann der nächste Bauabschnitt nicht beginnen! Alles wartet darauf, dass wir mit den Abrissarbeiten fertig werden! Alles hängt daran! Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was das bedeutet? Ich sehe, Sie haben keine. Können Sie sich in die Lage der Anteilseigner versetzen, die zunehmend unruhig werden, je deutlicher sie erkennen, dass ihre Gewinne möglicherweise verzögert werden? Sie piesacken die Direktoren der Eisenbahngesellschaft, und die Direktoren piesacken wiederum mich!«
Er hob die Stimme zu einem klagenden Jammern. »Können Sie sich die Kosten des ganzen Unternehmens vorstellen? Wissen Sie, wie hoch die Löhne der Arbeiterschaft sind?«
»Mr Fletcher!«, unterbrach ich ihn so höflich, wie es mir möglich war. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass die Arbeiten auf der Baustelle nicht länger unterbrochen werden müssen.«
»Es ist unmöglich, auch nur halbwegs schneller als mit Schneckentempo voranzukommen!«, schäumte er. »Und das liegt ganz allein an der Gegenwart der Polizei! Kaum haben die Arbeiter mit einem Auftrag angefangen, taucht ein Bursche in Uniform auf und verlangt, dass sie ihre Schaufeln und Hacken niederlegen, damit er sie vernehmen kann. Tag für Tag beschließen ein oder zwei Leute, dass sie nicht länger unter den Augen eines Constables arbeiten wollen, der alles, was sie tun, mit Misstrauen beobachtet und sie unaufhörlich mit impertinenten Fragen belästigt. Als wäre das nicht schlimm genug, gehören die meisten der Arbeiter zwar keiner formellen Religionsgemeinschaft an, aber sie sind unendlich abergläubisch, und niemand will in dem Bereich arbeiten, wo die Tote gefunden wurde. Die wenigen Gottesfürchtigen möchten nichts mit einem Ort zu schaffen haben, wo ein Verbrechen geschehen ist. Jeden Morgen erscheinen einige nicht mehr zur Arbeit, und dann müssen wir andere Arbeiter finden, die für sie weitermachen.«
»Es gibt sicherlich mehr als genug Arbeiter in London«, schnappte ich.
»Und es gibt mehr als reichlich Arbeit für sie!«, schnappte Fletcher zurück. »Es ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen, Inspector, aber ganz London wird schon seit einer
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