Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
auf die Uhr. »Okay«, murmelte er, »ist ohnehin Zeit für den Sonnenuntergang.«
Es dauerte nicht lange, bis er sich für den Frack entschieden hatte, um so länger stand er vor dem Colorator; das Rubinrot, das er sich schließlich ausgesucht hatte, gefiel ihm dann doch nicht, er ließ den Stoff löschen und orange färben, für das Hemd wählte er ein sattes Lila. Dann saß er lange vor dem Spiegel und kämmte sorgfältig sein dichtes Haar, bis es die richtig abgestimmte mattlila Tönung angenommen hatte, am Schluß färbte Timothy eine Strähne über der Stirn orange. Er war sehr mit sich zufrieden, als er in den Spiegel blickte.
Tom begrüßte ihn mit einem breiten Lachen, verbeugte sich tief, doch sein Kopf reichte trotzdem nicht zu Timothy hinunter.
»Oh, Massa Tiny«, sagte er in dem Negersklavenslang, der ebenso wie die mit Goldschnüren verzierte Uniform zu seiner Rolle als Liftboy der »Stardust«-Bar gehörte, »warum ich nicht wissen, Sie heute in Orange kommen, ich sonst ziehen blau an.«
Timothy blinzelte ihm zu. Als sie den 1112. Stock erreicht hatten, riß Tom die Lifttür mit solch einem Krach auf, daß alle Köpfe in der Bar herumflogen. Er nahm Haltung an, als brächte er den Präsidenten der Staaten. Timothy ließ sich viel Zeit auf seinem Weg zum Tresen, blickte aufmerksam nach links und rechts, hin und wieder schenkte er einem der Gäste ein Lächeln. Er schien das Staunen und die Bewunderung, die er erregte, zu genießen.
Der Barkeeper hatte den Stuhl schon heruntergefahren. Timothy winkte ihm wohlwollend zu. »Hallo, Melvin?«
»Hallo, Mister Tiny!«
Timothy zählte seinen Count down, und sobald er beide Ellenbogen auf die Platte des Tresens legen konnte, bestellte er Old Finch, vierstöckig und ohne Eis.
»Für mich auch«, sagte jemand hinter ihm, »aber mit Eis.« Es war Smiley Hepburn, und er trug einen Smoking! Timothy musterte ihn belustigt.
»Guck mich nicht so an!« brummte Smiley. »Alles deinetwegen. Ich war bei einem Empfang der Medizinischen Akademie. Die Einladungskarte kostet dich hundert Dollar. Da ich nun schon so piekfein angezogen war, wollte ich gleich mal deine stinkvornehme Bar beglücken und auf dein Wohl trinken – und auf deine Rechnung. Dachte mir, daß du dir den Sonnenuntergang angucken wirst; wenn nicht, wäre ich nachher runtergekommen. Prost.«
»Prost.« Timothy deutete zur Westfront, wo die Sonne sich anschickte, in die Wolken zu tauchen.
Smiley hatte nicht viel erreicht, das Wichtigste war eine Namensliste von Chirurgen, die wegen krimineller Operationen aus der Ärztekammer ausgestoßen worden waren. Timothy verschwand für einen Augenblick hinter der Bar und gab sie Napoleon durch. Und einem Bekannten bei der Flugüberwachung.
Gegen Mitternacht hatten sie alle Whiskysorten gekostet und nahmen den Kognak in Angriff.
»Mann«, sagte Smiley mit schwerer Zunge, »das wird ’ne Rechnung, so hoch wie deine Bar hier. Wer zahlt ’n das? Wer ist dein Klient?«
»Ich bin mein eigener Klient. Ich kann es nun mal nicht vertragen, wenn ich etwas nicht verstehe.«
»Du bist gut.« Smiley kicherte. »Als ob diese Welt noch zu verstehen wäre! Verstehst du etwa, warum es schon seit drei Wochen kein frisches Brot mehr gibt? Oder warum der alte Foreman sich alle halbe Jahre ’ne neue Frau nimmt, wo der doch gar nicht mehr kann, oder warum die UNIVERSAL sich ’ne Herde Taucher ausbildet, wo’s doch gar kein richtiges Wasser mehr gibt, oder warum wir ’ne Weltraumbehörde haben, wo wir doch nicht mal mehr ’n klitzekleinen Sputnik starten dürfen? Verstehst du das?«
Er schlug Timothy auf die Schulter, daß der fast vom Barhocker gefallen wäre.
Der Barkeeper beugte sich zu Timothy. »Es ist nicht meinetwegen«, flüsterte er, »aber für Ihr Image wäre es sicher besser, Tiny...«
»Halt’s Maul!« lallte Smiley. »Tiny braucht kein Image. Tiny ist der Größte, und wenn einer von den Lackaffen hier das bestreiten will, dann hau’ ich ihm in die Fresse.«
Er versuchte sich umzudrehen und rutschte dabei vom Hocker. Tom stand im Nu neben Smiley und lotste ihn zum Fahrstuhl.
»Dein Image«, stänkerte Smiley, als sie den Lift verließen, „’n richtiger Affenfatzke bist du geworden, Tiny. Apfelsinenfrack und blaue Haare! Count down an der Bar!«
Timothy boxte ihm in den Bauch. »Halt die Luft an, Smiley. Was denkst du, warum ich diesen Zirkus mache? Ein Zwerg, das ist nur komisch – bestenfalls. Aber ein eitler, arroganter, versnobter Zwerg, das
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