Wer stirbt, entscheidest du
mit einer von Whisky inspirierten Drohgebärde. Mein Vater hatte mich noch nie geschlagen. Ich wartete darauf, dass er es jetzt tun würde, empfand aber keine Angst, sondern nur Müdigkeit. Ich kannte diesen Mann, sowohl als meinen Vater wie auch als einen jener Kerle, wie sie mir Nacht für Nacht auf Streife über den Weg liefen.
«Dad», hörte ich mich leise sagen. «Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich bin eine gut ausgebildete Polizistin, und wenn du mich aufhalten willst, musst du dich schon ein bisschen mehr ins Zeug legen.»
«Ich habe keine Kindsmörderin aufgezogen», knurrte er.
«Nein, das hast du nicht.»
Er runzelte die Stirn. Betrunken, wie er war, hatte er offenbar Probleme zu verstehen.
«Willst du, dass ich meine Unschuld beteuere?», fuhr ich fort. «Das habe ich schon einmal versucht. Es hat nichts genutzt.»
«Du hast diesen jungen Howe getötet.»
«Nein.»
«Die Polizei ist anderer Meinung.»
«Polizisten machen Fehler, auch wenn es mir schwerfällt, das zuzugeben.»
«Warum bist du dann zur Polizei gegangen?»
«Weil …» Ich zuckte mit den Achseln. «Ich bin gut in meinem Job.»
«Vielleicht warst du das. Aber dann hast du deinen Mann und deine Tochter umgebracht.»
«Nein.»
«Die Polizei ist anderer Meinung.»
«Wir drehen uns wieder einmal im Kreis.»
Wieder runzelte er die Stirn.
«Ich nehme mir jetzt einen Wagen», wiederholte ich. «Damit werde ich den Mann zur Strecke bringen, der meine Tochter in seiner Gewalt hat. Entweder du stellst dich quer, oder du verrätst mir, welche deiner Schrottkarren noch halbwegs in Schuss ist. Oh, und ein bisschen Sprit wäre auch nicht schlecht. Ich möchte zurzeit nämlich nicht an einer Tankstelle haltmachen müssen.»
«Ich habe eine Enkeltochter», räusperte er sich.
«Ja. Sie ist sechs Jahre alt, heißt Sophie und rechnet damit, dass ich sie rette. Also hilf mir, Dad. Hilf mir, sie zu retten.»
«Ist sie so zäh wie ihre Mom?»
«Das hoffe ich doch sehr.»
«Wer hat sie?»
«Das werde ich herausfinden.»
«Wie?»
Ich schmunzelte. «Sagen wir so: Der Staat Massachusetts hat eine Menge in meine Ausbildung investiert, und das soll nicht umsonst gewesen sein. Gib mir ein Fahrzeug, Dad. Wir haben keine Zeit zu verlieren und Sophie schon gar nicht.»
Er bewegte sich nicht vom Fleck, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf mich herab. «Du belügst mich, oder?»
Ich hatte keine Lust mehr, mich mit ihm auseinanderzusetzen, schlang ihm die Arme um die Taille und presste mein Gesicht an seine massige Brust. Er roch nach Zigaretten, Motoröl und Whisky. Er roch nach meiner Kindheit, nach meinem Zuhause und der Mutter, die ich immer noch vermisste.
«Ich liebe dich, Dad. War schon immer so. Und wird immer so sein.»
Es schüttelte ihn. Ein kleines Beben, das ich so deuten wollte, als sei es seine Art, mir zu sagen, dass auch er mich liebte, zumal es allzu schmerzhaft wäre, etwas anderes zu glauben.
Ich trat zurück. Er nahm einen Schlüssel vom Haken.
«Der blaue Ford-Pick-up draußen. Hat schon einiges an Meilen runter, läuft aber noch wie am Schnürchen. Vierradgetriebe. Das wirst du brauchen.»
Um durch den Schnee zu kommen. Perfekt.
«Draußen stehen auch mehrere gefüllte Benzinkanister. Bedien dich.»
«Danke.»
«Bring sie zurück», sagte er plötzlich. «Wenn du sie findest, wenn du … Bring sie zurück. Ich möchte meine Enkelin kennenlernen.»
«Vielleicht», erwiderte ich.
Mein Zögern verunsicherte ihn. Er starrte mich an.
Ich nahm den Schlüssel und begegnete seinem Blick. «Unter uns Alkoholikern, Dad – du musst aufhören zu trinken. Dann sehen wir weiter.»
«Kotzbrocken», murmelte er.
Ich lächelte ein letztes Mal und gab ihm einen Kuss auf die ledrige Wange. «Nach dir geraten», flüsterte ich.
Ich warf mir den Matchbeutel über die Schulter und ging.
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35. Kapitel
«Was hat die Szene im Wald so entsetzlich gemacht?», fragte D.D. und gab gleich selbst eine Antwort: «Dass es unvorstellbar ist, dass eine Mutter ihr eigenes Kind tötet und dann auch noch die Leiche von Sprengsätzen zerfetzen lässt. Was für eine Mutter würde so etwas tun?»
Bobby stand neben ihr auf der Veranda von Juliana Howes Haus und nickte. «Ein Ablenkungsmanöver. Um fliehen zu können.»
D.D. zuckte mit den Schultern. «Nicht wirklich. Sie war doch schon mit Officer Fiske allein, weit entfernt vom Rest des Suchtrupps. Wozu ablenken? Sie hätte Officer Fiske sofort
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