Wer stirbt, entscheidest du
mir klar wurde, seit zwölf Stunden nichts gegessen. Aber für einen Imbiss war es jetzt zu spät. Die Tür öffnete sich, unter dem Vordach ging eine Lampe an. Shane tauchte auf. Tina, seine Frau, stand hinter ihm in einem flauschigen rosafarbenen Bademantel. Sie gab ihrem Mann zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Ich spürte einen Stich in der Brust, achtete aber nicht weiter darauf.
Shane setzte sich in Bewegung. Tina machte die Tür hinter ihm zu.
Ich hielt die Luft an, und startete im Stillen meinen Countdown.
Shane sprang die Stufen hinunter und kam näher. Die Wagenschlüssel klimperten in seiner Hand. Er erreichte seinen Crown Vic und schloss die Fahrertür auf.
Ich schlich um das Heck herum und drückte ihm den Lauf meiner Glock an den Hals.
«Ein Mucks, und du bist tot.»
Shane gab keinen Laut von sich.
Ich nahm ihm die Dienstwaffe ab. Dann stiegen wir beide in seinen Streifenwagen.
Ich ließ ihn auf der Rückbank Platz nehmen, wo er nicht an das Funkgerät herankam. Ich setzte mich auf den Fahrersitz und richtete meine Pistole durch das kleine Schiebefenster in der kugelsicheren Trennwand auf ihn. Normalerweise zielt ein Polizist immer auf die Brust – die größte Masse. Aber weil ich davon ausgehen musste, dass Shane bereits seine Schutzweste angezogen hatte, zielte ich auf seinen Kopf.
Auf meine Aufforderung hin reichte er mir Handy, Dienstkoppel und Pager. Ich legte alles auf den Beifahrersitz und verlangte dann, dass er seine Handschellen anlegte.
Als ich mich von ihm wegdrehte, um den Motor zu starten, spürte ich, wie er sich aufzurichten versuchte.
«Keine Dummheiten», sagte ich scharf. «Ich schulde dir was, erinnerst du dich?» Ich deutete auf mein geschundenes Gesicht. Er sackte in sich zusammen und ließ die gefesselten Hände in den Schoß fallen.
Der Motor sprang an. Wenn Tina jetzt aus dem Fenster blickte, würde sie annehmen, dass ihr Mann den Motor warm laufen ließ und mit der Einsatzleitung Kontakt aufnahm.
Eine Verzögerung von fünf bis zehn Minuten wäre nicht ungewöhnlich. Aber danach würde sie sich Gedanken machen, vielleicht sogar nach draußen kommen. Ich hatte also nicht viel Zeit für unser Gespräch.
Trotzdem musste ich ein bisschen ausholen.
«Du hättest härter zuschlagen sollen», sagte ich und drehte mich wieder zu ihm um. «Dachtest du wirklich, eine Gehirnerschütterung könnte mich außer Gefecht setzen?»
Shane schwieg. Sein Blick war auf die Glock gerichtet, nicht auf mein Gesicht.
Ich spürte Wut in mir aufsteigen. Am liebsten wäre ich durch die Luke gekrochen, um ihm zuerst mit der Waffe, dann mit bloßen Fäusten die Fresse zu polieren.
Ich hatte ihm, meinem Kollegen, vertraut. Brian hatte ihm, seinem besten Freund, vertraut. Doch er hatte uns beide verraten.
Ich hatte ihn Samstagnachmittag, gleich nachdem ich den Killer ausgezahlt hatte, angerufen und meine letzte Hoffnung auf ihn gesetzt. Klar, mir war eingeschärft worden, nur ja keinen Kontakt zur Polizei aufzunehmen und den Mund zu halten. Sonst … Aber Shane war nicht nur ein Kollege, sondern ein Freund, Brians bester Freund. Er würde mir doch helfen, Sophie zu retten.
Aber dann hatte er mir mit völlig ungerührter Stimme am Telefon gesagt: «Du lässt dir wohl überhaupt nichts sagen, Tessa, oder? Wenn diese Typen von dir verlangen, dass du die Klappe hältst, dann halt sie gefälligst. Oder willst du, dass wir am Ende alle draufgehen?»
Es stellte sich heraus, dass Shane bereits gewusst hatte, was vorgefallen war. Er wiederholte, Brian sei übergriffig gewesen und zu weit gegangen. Ich hätte in Notwehr auf ihn geschossen. Keine Spuren körperlicher Gewalt? Keine Sorge, er werde Abhilfe schaffen. Ich hatte ihm am Telefon gesagt, dass mir vierundzwanzig Stunden blieben, um Sophie zu retten. Okay, meinte er darauf. Er werde gleich morgen zu mir kommen, mich ein bisschen vermöbeln, und dann würden wir die Polizei rufen. Er versprach, bei mir zu bleiben und mir den Rücken zu stärken.
Natürlich – es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Shane war nicht nur Brians Freund, sondern auch sein Komplize gewesen. Und jetzt musste er seine Haut retten, um jeden Preis, und sei es, indem er Brian, mich und Sophie opferte.
Ich war angeschmiert, und das Leben meiner Tochter hing am seidenen Faden. Erstaunlich, wie klar man plötzlich sieht, wenn einen das eigene Kind braucht. Wenn es um Leben oder Tod geht. Ich zögerte keinen Moment, die Leiche meines Mannes mit Schnee zuzuschaufeln
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