Wer stirbt, entscheidest du
stand unter Schock. Sie schaffte es einfach nicht.
Der Polizei nannte sie flüsternd Tessas Namen, und so wurde aus einer Lüge schnell eine Tatsachenbehauptung. Tessa hatte ihren Bruder erschossen.
Was Tessa nie bestritten hatte.
«Wenn es zur Anklage gekommen wäre», sagte Juliana nun, «hätte ich alles gestanden. Ja, das hätte ich. Aber als dann die anderen Mädchen gegen meinen Bruder aussagten, war klar, dass Tessa ein Prozess erspart bleiben würde, zumal sogar der Staatsanwalt zu dem Ergebnis kam, dass sie in Notwehr gehandelt hatte.
Ich dachte, sie wäre aus dem Schneider. Und mein Vater … tja, er war nur noch ein Wrack. Er wollte nicht wahrhaben, dass sein Sohn Frauen belästigte, geschweige denn seine eigene Schwester. Ich hielt es für besser, den Mund zu halten. Aber je länger man schweigt, desto schwerer wird es, irgendwann doch noch mit der Wahrheit herauszurücken. Ich wollte Tessa sehen, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte meinen Eltern erklären, was tatsächlich geschehen war, aber auch dazu fehlten mir die Worte.
Ich verstummte. Ein ganzes Jahr lang. Was meinen Eltern überhaupt nicht auffiel. Sie waren so sehr mit sich und ihrem Kummer beschäftigt, dass sie mich kaum noch zur Kenntnis nahmen. Irgendwann war Tessa verschwunden. Ich hörte nur, dass ihr Vater sie vor die Tür gesetzt hatte. Sie war gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Vielleicht sprach sie auch nicht mehr. Wer weiß? Und dann meldete sie sich plötzlich gestern Abend. Ich wusste nicht, dass sie Polizistin geworden und verheiratet ist oder dass sie eine kleine Tochter namens Sophie hat. Sophia ist mein zweiter Vorname. Sie hat ihre Tochter nach mir benannt. Nach allem, was ich ihr angetan habe …»
«Ihre Tochter ist tot», sagte D.D. geradeheraus.
«Sie irren sich!» Juliana schüttelte den Kopf. «Das stimmt nicht.»
«O doch. Wir haben ihre Leiche gesehen. Oder sagen wir besser das, was die Sprengsätze davon übrig gelassen haben.»
Juliana wurde kreidebleich, schüttelte aber immer noch den Kopf. «Sie irren sich», wiederholte die junge Frau hartnäckig.
«Für eine Frau, deren Familie sich besonders gut darauf versteht, unliebsame Wahrheiten zu leugnen …»
«Sie kennen Tessa nicht.»
«Sie offenbar auch nicht. Schließlich hatten Sie zehn Jahre keinen Kontakt mit ihr.»
«Sie ist verdammt clever und unabhängig. Aber einem Kind würde sie nie etwas zuleide tun, nicht nach ihren Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrem Bruder.»
Bobby und D.D. tauschten Blicke. «Bruder?», fragte D.D.
«Er kam tot zur Welt. Daran ist die Familie zerbrochen, schon Jahre bevor wir uns kennenlernten. Ihre Mutter wurde depressiv und hätte eigentlich in eine Klinik gemusst. Aber welcher Arzt hätte sie damals eingewiesen? Sie hielt sich nur noch im Schlafzimmer auf und ignorierte ihre Tochter. Ihr Vater gab sein Bestes, was aber nicht reichte. Trotzdem liebte Tessa ihre Eltern. Sie kümmerte sich um sie, auf ihre Weise. Und sie liebte auch ihren toten Bruder. Eines Tages haben wir eine Trauerfeier für ihn abgehalten. Sie hat geweint, hemmungslos geweint, was sonst bei ihr zu Hause nicht erlaubt war.»
D.D. starrte Juliana an. «Hätten Sie mir das alles nicht schon früher sagen können?»
«Warum hat die Polizei nicht gründlicher gearbeitet? Müssen ihr die Opfer von Gewaltverbrechen alles auf die Nase binden?»
D.D. sträubten sich die Nackenhaare. Bobby legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
«Wo haben Sie Tessa abgesetzt?», fragte er leise.
«Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen», antwortete Juliana schnippisch.
«Tessa wurde von Ihnen abgeholt. Das haben Sie bereits zugegeben.»
«Nein. Habe ich nicht. Das hat Ihre Partnerin behauptet.»
D.D. funkelte sie böse an. «Wollen Sie mit uns herumalbern? Wir können Sie auch mit aufs Präsidium nehmen. Ihr Wagen würde derweil von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt. Wie alt ist Ihr Kind? Ich frage, weil ich nicht weiß, ob Säuglinge ihre Mütter im Gefängnis besuchen dürfen.»
«Tessa hat mich Montagabend kurz nach neun angerufen», sagte Juliana trotzig. «Sie fragte, wozu Freunde gut seien. Ich sagte: ‹Tessa?› Sie können sich wohl vorstellen, wie überrascht ich war, sie nach all den Jahren zu hören. Sie sagte, sie würde sich wieder bei mir melden, und legte dann auf. Mehr war nicht. Wenn Sie wissen wollen, warum sie mich angerufen hat und was sie mit dieser Frage meinte oder ob sie demnächst wieder Kontakt mit
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