Wer stirbt, entscheidest du
Größe von zehn mal vierzehn, die anscheinend samt und sonders Shanes Familie zeigten: Tina im Supermarkt, Tina mit einer Yogamatte unterm Arm, Tina, wie sie ihre Söhne von der Schule abholt, die Jungs auf dem Schulhof.
Man musste kein Genie sein, um zu verstehen, was dahintersteckte. Jemand stellte der Familie nach und wollte, dass sich Shane darüber im Klaren war.
Dann blätterte D.D. das letzte Foto auf. Sie schnappte unwillkürlich nach Luft, während Bobby verhalten fluchte.
Sophie Leoni.
Sie blickte direkt in die Kamera und hielt eine Stoffpuppe umklammert, der ein Auge fehlte. Sie hatte ihre Lippen aufeinandergepresst wie ein Kind, das versuchte, nicht zu weinen. Das Kinn war trotzig angehoben, aber auf den Wangen zeigten sich Spuren von Schmutz und Tränen. Die hübschen braunen Haare sahen aus wie ein Rattennest.
Vom Hintergrund war nur der kleine Ausschnitt einer Holzvertäfelung zu erkennen. Vielleicht von einem Einbauschrank oder einer kleinen, fensterlosen Kammer, dachte D.D. Ein Kinderverlies.
Ihre Hände fingen an zu zittern.
Sie drehte das Foto herum, um nach weiteren Hinweisen zu suchen.
Auf der Rückseite stand ein mit schwarzem Marker geschriebener Satz: Das könnte auch euren Kindern blühen .
D.D. betrachtete wieder das herzförmige Gesicht des Mädchens, und ihre Hände zitterten jetzt so sehr, dass sie das Foto in den Schoß legte.
«Sie ist gekidnappt worden, jemand hat sie tatsächlich …» Ein neuer Gedanke schoss ihr durch den Kopf. «Und es ist schon über drei Tage her, drei verfluchte Tage .»
Sie schlug aufs Armaturenbrett, aber dass die Hand schmerzhaft brannte, konnte ihre Wut nicht im Geringsten dämpfen.
Sie wirbelte im Sitz herum und schaute ihren Partner an. «Wer zum Teufel kidnappt das Kind einer Polizistin und bedroht die Familie eines Kollegen? Ich meine, wer verdammt noch mal tut so was?»
Bobby antwortete nicht sofort. Er hatte die Hände um das Steuerrad gekrallt.
«Was hat Tina am Telefon gesagt?», fragte er plötzlich. «Welche Instruktionen hatte sie von Shane?»
«Dass sie mir diesen Umschlag geben soll, wenn ihm etwas zustößt.»
«Warum dir, D.D.? Du gehörst zur Bostoner Polizei. Warum hat sich Shane nicht an seine unmittelbaren Kollegen gewandt?»
D.D. starrte ihn an. Sie erinnerte sich an den ersten Tag der Ermittlungen in diesem Fall, daran, wie die gesamte Riege der State Police Front gegen sie, die Cops der Stadt, gemacht hatte. Und plötzlich gingen ihr die Augen auf.
«Du glaubst doch nicht etwa …», hob sie an.
«Es gibt nur wenige, die die Dreistigkeit besitzen, sich nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Vertretern der State Police anzulegen. So etwas würde ich höchstens einem anderen Cop zutrauen.»
«Wieso?»
«Wie viel Geld ist aus der Kasse der Trooper-Gewerkschaft verschwunden?»
«Eine Viertelmillion.»
Bobby nickte.
«Das wären dann mit anderen Worten zweihundertfünfzigtausend Gründe, den uniformierten Kollegen in den Rücken zu fallen, Brian Darby zu töten, Sophie Leoni zu kidnappen und Shane Lyons zu bedrohen.»
D.D. dachte darüber nach. «Tessa Leoni hat Trooper Lyons erschossen. Er ist seinen Kollegen in den Rücken gefallen und hat nicht zuletzt seine eigene Familie verraten. Stellt sich die Frage: Hat sie von ihm erfahren, was sie wissen wollte?»
«Name und Adresse desjenigen, der ihre Tochter in seiner Gewalt hat», ergänzte Bobby.
«Lyons war nur ein Handlanger. Dasselbe gilt vielleicht auch für Brian Darby. Sie haben die Gewerkschaftskasse geplündert, um ihrer Spielleidenschaft frönen zu können. Und dabei hat ihnen irgendjemand geholfen, jemand, der am längeren Hebel sitzt.»
Bobby blickte noch einmal auf das Foto und dachte laut nach: «Wenn Tessa Leoni Trooper Lyons erschossen hat und bis hierher gekommen ist, wird sie ein Fahrzeug haben.»
«Und ein kleines Waffenarsenal.»
«Könnte also gut sein, dass sie einen Namen und eine Adresse hat», fügte Bobby hinzu.
«Sie holt sich ihre Tochter zurück.»
Bobby lächelte. «Dann sollten ihre Entführer beten, dass wir früher als Tessa zur Stelle sind.»
[zur Inhaltsübersicht]
38. Kapitel
Über manche Dinge denkt man lieber nicht nach. Und genau das versuchte ich zu tun. Ich fuhr. Auf dem Mass Pike zur Route 128 und dann in südlicher Richtung auf Dedham zu. Nach weiteren acht Meilen und einem halben Dutzend Abzweigungen erreichte ich ein dicht bewaldetes Wohnviertel. Ältere Gebäude größeren Zuschnitts. Wo in Vorgärten
Weitere Kostenlose Bücher