Wer stirbt, entscheidest du
ich ein mit dem Gedanken, die glücklichste Frau der Welt zu sein.
Es sollte ein ganzes Jahr vergehen, bevor ich meinem Mann wieder sagen konnte, dass ich ihn liebe. Aber da lag er sterbend vor mir auf dem frisch geschrubbten Küchenboden, mit drei Kugeln in der Brust, abgefeuert aus meiner Dienstwaffe, sein Gesicht ein trauriger Spiegel meiner eigenen Reue.
Sekunden später rannte ich durchs Haus und stellte alles auf den Kopf, suchte meine Tochter, die nirgends zu finden war.
Weitere Geräusche drangen an mein Ohr. Fernes Piepen, eilende Schritte, Rufe. Krankenhausgeräusche. Laut und drängend. Sie zerrten mich brutal in die Gegenwart zurück, eine Gegenwart ohne Ehemann, ohne Sophie. Ich war allein in einem Krankenzimmer und wischte mir Tränen von der unversehrten Gesichtshälfte.
Zum ersten Mal bemerkte ich, dass ich etwas in der linken Hand verschlossen hielt. Ich hob sie vor mein gesundes Auge und öffnete sie.
Es war ein Knopf. Vielleicht anderthalb Zentimeter im Durchmesser. In den beiden Löchern steckten noch Reste eines dunkelblauen Fadens. Der Knopf mochte von einer Hose sein, einer Bluse oder vielleicht von einer Uniform.
Doch dem war nicht so. Ich erkannte ihn sofort, sah im Geiste auch das dazugehörige Pendant, das andere blaue Auge, eingenäht in das Stoffgesicht der Lieblingspuppe meiner Tochter.
Mich überkam plötzlich eine rasende Wut. Mir schnürte sich die Kehle zu, und ich krallte die Hand so fest zusammen, dass die Knöchel weiß wurden.
Dann warf ich den Knopf quer durchs Zimmer. Er traf auf den Paravent. Im selben Augenblick bereute ich schon, dass ich mich dazu hatte hinreißen lassen. Ich wollte den Knopf zurückhaben. Ich musste ihn zurückhaben. Er war meine einzige Verbindung zu Sophie.
Bei dem Versuch, mich aufzurichten, fuhr mir ein unsäglicher Schmerz durch den Schädel. Die Wangen flammten wieder auf. Vor meinen Augen drehte sich alles, mir wurde übel, und mein Herz fing zu rasen an.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Ich legte mich wieder zurück und atmete kontrolliert. Der Schwindel ließ nach, und ich konnte wieder schlucken, ohne zu würgen. Reglos lag ich da, meiner Verwundbarkeit bewusst, der Schwäche, die ich mir nicht leisten konnte.
Deswegen schlugen Männer Frauen. Um ihnen körperliche Überlegenheit zu demonstrieren. Um zu zeigen, dass sie größer und stärker waren als wir, auch wenn unsereins ein Spezialtraining absolviert hat. Sie waren das dominante Geschlecht. Wir hatten uns zu unterwerfen und mussten uns geschlagen geben.
Aber man musste mir keine Bierflasche über den Schädel ziehen, um mich in meine physischen Grenzen zu verweisen. Ich brauchte keine behaarte Faust im Gesicht, um zu erkennen, dass manche Schlachten einfach nicht gewonnen werden konnten. Ich hatte mich längst damit abgefunden, kleiner und verletzlicher zu sein als andere. Trotzdem habe ich die Polizeiakademie überlebt. Trotzdem fuhr ich schon als eine der wenigen weiblichen Trooper seit vier Jahren Streife.
Ich hatte eine bezaubernde Tochter zur Welt gebracht, ganz allein.
O nein, ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Nie würde ich mich geschlagen geben.
Wieder fing ich zu weinen an. Ich schämte mich für meine Tränen, wischte sie wieder von der heilen Wange und achtete darauf, mein blaues Auge zu schonen.
Vergesst das verdammte Einsatzkoppel, hatten uns die Ausbilder am ersten Tag unserer Ausbildung eingeschärft. Die beiden wichtigsten Waffen eines Polizisten seien sein Kopf und der Mund. Es komme darauf an, strategisch zu denken und mit Bedacht zu reden. So wäre jede Situation zu meistern.
Vor einer schwierigen Situation, die es zu meistern galt, stand ich auch jetzt, denn bald würden die Cops wieder aufkreuzen und mich in die Mangel nehmen.
Strategisch denken. Okay. Wie spät?
Vier, fünf Uhr?
Es würde bald dunkel werden, die Nacht hereinbrechen.
Sophie …
Meine Hände zitterten, ich drohte schwach zu werden.
Strategisch denken.
Du hängst fest in einem Krankenhaus. Kannst nicht weglaufen, dich nicht verstecken, nicht angreifen, dich nicht wehren. Aber Worte mit Bedacht wählen.
Mit Bedacht Opfer bringen.
Ich erinnerte mich wieder an Brian, an den wunderschönen Nachmittag im Herbst, daran, dass man einen Mann lieben und gleichzeitig verfluchen kann. Ich wusste, was zu tun war.
Auf der Konsole neben dem Bett stand ein Telefon. Ich wählte.
«Ken Cargill, bitte. Ich bin seine Mandantin, Tessa Leoni. Sagen Sie bitte, dass ich mir Gedanken um die
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