Wer stirbt, entscheidest du
Staatsanwalt für Tessa Leoni mildernde Umstände gelten und die Anklage fallen ließ … na, da hätten Sie mal den Vater – James, James Howe – erleben sollen. Der ging unter die Decke, brüllte den Staatsanwalt an und beklagte sich bei meinem Lieutenant über meine angeblich schlampige Polizeiarbeit, der zu verdanken wäre, dass eine kaltblütige Mörderin ungeschoren davonkäme. Er drohte sogar mit Konsequenzen und behauptete, einflussreiche Freunde zu haben.»
«Hat er seine Drohung wahrgemacht?», fragte D.D. neugierig.
Walthers verdrehte die Augen. «Ach was, er war ein mittlerer Angestellter bei Polaroid. Einflussreiche Freunde? Dummes Zeug. Er hatte sein Auskommen, und ich kann mir auch vorstellen, dass seine Untergebenen vor ihm buckelten. Aber König war er allenfalls in seinem kleinen Büro und auf den hundertzwanzig Quadratmetern seines Hauses. Eltern …», sagte Walthers und schaute hilfesuchend unter die Decke.
«Wollten Mr. und Mrs. Howe nicht wahrhaben, dass Tessa von ihrem Sohn attackiert wurde?»
«So ist es. Sie gaben ihrem Sohn keinerlei Schuld, was recht interessant ist, denn auf der anderen Seite hielt Donnie Leoni seine Tochter tatsächlich für schuldig. Ich hörte später, dass er sie aus dem Haus geworfen hat. Offenbar gehört er zu denjenigen, die meinen, dass es Frauen ja nur darauf anlegen.» Walthers schüttelte den Kopf. «Was soll man da machen?»
Die Kellnerin kam mit dem Essen, setzte vor Walthers und Bobby riesige Teller ab und reichte D.D. ihren Orangensaft.
«Sonst noch etwas?», fragte sie.
Sie schüttelten ihre Köpfe, worauf sie sich verzog.
Die Männer langten zu. D.D. rückte näher ans halbgeöffnete Fenster, um sich nicht den Fettgeruch um die Nase wehen lassen zu müssen. Sie nahm das Kaugummi aus dem Mund und probierte ihren Saft.
Tessa Leoni hatte also Tommy Howe ins Bein geschossen. D.D. stellte sich die Szene vor und fand die Choreographie durchaus plausibel. Tessa, sechzehn Jahre alt, von einem größeren, kräftigeren Jungen in die Sitzpolster gedrückt; sie spürt ihre Handtasche an der Seite, greift in ihrer Bedrängnis nach der Zweiundzwanziger ihres Vaters und bringt die Waffe zwischen sich und den Jungen.
Walthers hatte recht: dumm, dass Tommy an einem einzigen Schuss gestorben war. Dumm auch für Tessa, dass sie darüber ihren Vater und die beste Freundin verloren hatte.
Dass Tommys Neigung zu sexuellen Übergriffen von anderen Mädchen bestätigt worden war, entlastete Tessa und rechtfertigte das Plädoyer auf Notwehr. Doch nun schlugen zwei Taten zu Buche – der Versuch, sich einen aggressiven Teenager vom Hals zu halten und die gezielten Schüsse auf ihren übergriffigen Ehemann.
Zweimal hatte sie zur Waffe gegriffen, in Notwehr, wie es schien. Pech, oder war da nicht doch Vorsatz zu unterstellen?
Walthers und Bobby hatten ihre Teller geleert. Bobby zahlte, Walthers dankte. Nachdem sie draußen vor der Tür ihre Visitenkarten ausgetauscht hatten, verabschiedete sich Walthers und ging. Bobby und D.D. blieben auf dem Gehweg zurück. Walthers war gerade hinter der nächsten Ecke verschwunden, als Bobby fragte: «Willst du mir vielleicht was sagen, D.D.?»
«Nein.»
Er presste die Lippen aufeinander, verzichtete aber auf weitere Fragen. Stattdessen wandte er sich ab und studierte die Markise der Bar. Man hätte meinen können, er sei beleidigt, aber D.D. kannte ihn besser.
«Auch ich habe eine Frage an dich», sagte sie, um das Thema zu wechseln. «Tessa Leoni hat sich zweimal mit Waffengewalt gegen männliche Übergriffe zur Wehr gesetzt. Hatte sie einfach Pech, oder ist sie vielleicht durchtriebener, als man auf den ersten Blick glauben möchte?»
Bobby merkte auf und schaute ihr mit wacher Miene ins Gesicht.
«Denk mal darüber nach», fuhr D.D. fort. «Tessa war schon mit sechzehn auf sich allein gestellt und wurde mit zwanzig schwanger. Dann ist sie nach eigener Auskunft vernünftig geworden und hat sich ein neues Leben aufgebaut. Sie bringt ein hübsches Mädchen zur Welt, tritt in den Polizeidienst ein und hat sogar das Glück, einen tollen Mann kennenzulernen. Aber der fängt an zu trinken und zu prügeln. Und was macht sie?»
«Sie hält den Mund. Aber das kennt man ja: Cops vertrauen sich ihren Kollegen nicht an», antwortete Bobby.
«Genau», pflichtete ihm D.D. bei. «Einem ungeschriebenen Polizeigesetz zufolge hat ein Officer auf Streife in jeder Situation allein zurechtzukommen. Tessa hätte ihren Mann verlassen
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