Wer war Jesus
vervielfältigte sich sprunghaft, denn
Splitter von ihm wurden in alle Welt zerstreut, die, addiert, das Material für Hunderte von Kreuzen liefern würden. Die Wiederentdeckung
des Felsens Golgatha, auf dem Jesus nach den Berichten des |37| Neuen Testaments gekreuzigt wurde, schloss sich unmittelbar an; den Felsen verlegte man, unter Bezug auf biblische Hinweise,
in die direkte Nähe des Grabes Jesu, so dass er sich bald im Bereich der Grabeskirche befand. Beide Orte, das Grab Jesu und
Golgatha, wurden zu Heiligtümern in orientalischem Sinne: Golgatha als Mittelpunkt der Welt, das Grab als eine seit Weltbeginn
heilige Stätte, schließlich Tod und Auferstehung als Offenbarung des geheimnisvollen Sinnes beider Orte. Mit dem Bau der Grabeskirche
und infolge der mit ihr verbundenen Deutungen nahm der Pilgerstrom nach Jerusalem ungeahnte Ausmaße an und wurde auch durch
die muslimische Eroberung Palästinas im 7. Jahrhundert nicht wirklich beeinträchtigt.
Religiöses Bedürfnis verlangte von Anfang an danach, Orte des Heiligen Landes und die in der Bibel erzählte Geschichte miteinander
in Beziehung zu setzen. Dabei spielte es keine Rolle, dass diese Identifizierungen in vielen Fällen auf tönernen Füßen standen.
So sind z. B. weder der Ort der Himmelfahrt Jesu auf dem Ölberg, wo sich sogar ein Fußabdruck Jesu erhalten haben soll, noch
der Ort des Heimgangs der Maria tatsächlich identifizierbar. Der Schwindel mit Reliquien kam hinzu. Ein makabres Beispiel
hierfür ist die besondere Vorliebe deutscher Adliger im 15. Jahrhundert, die Überreste derjenigen Säuglinge aufzuspüren, die
König Herodes – in der Hoffnung, unter ihnen befinde sich auch das Jesuskind – dem Evangelium nach Matthäus zufolge umgebracht
haben soll. Diese Säuglinge waren allerdings schon deshalb nicht auffindbar, weil Herodes den Kindermord von Bethlehem nie
begangen hat. Doch boten geschäftstüchtige Händler den gierigen Pilgern Säuglingsleichen zum Kauf an, die in Ägypten einbalsamiert
und dann in Mengen nach Jerusalem exportiert wurden.
Irgendwie haben es menschliche Sehnsucht und menschliche Forschungstätigkeit in einer seltsamen Union doch noch geschafft,
die beiden wichtigsten heiligen Orte, den der Geburt und den des Begräbnisses Jesu, mit den Angaben der Bibel zu versöhnen.
So soll die Geburtskirche in Bethlehem, deren Bau ebenfalls auf die |38| fromme Helena zurückgeht, über der Höhle der Geburt Jesu errichtet worden sein. Doch ist das sicher falsch, da Jesus gar nicht
in Bethlehem geboren wurde. Die diesbezüglichen Aussagen der Heiligen Schrift sind Postulate der biblischen Verfasser: Der
Messias
musste
in Bethlehem geboren werden, deshalb
wurde
er dort auch geboren. Es handelt sich um Prophezeiungen aus dem Alten Testament, deren Erfüllung nachträglich einfach behauptet
wurde. Man funktionierte sie also kurzerhand in Geschichte um.
In der Grabeskirche, von orthodoxen Christen »Auferstehungs kirche « genannt, verehren christliche Pilger aller Bildungsschichten das ursprüngliche Grab Jesu, auch wenn dieser Lokalisierung
zuweilen eine gewisse Konkurrenz durch das von dem Engländer Gordon entdeckte »Gartengrab« erwuchs. Denn dass Jesus in zwei
verschiedenen Gräbern bestattet worden sei, das mochte wohl auch der frömmste Pilger nicht glauben. Doch lässt sich gegenüber
beiden Fundorten einwenden, dass es zur Zeit Konstantins gar keine jerusalemische Überlieferung über Golgatha und das Grab
Jesu gab. Wie der oben angeführte Fundbericht aus der Feder des Kirchenvaters Euseb eindeutig zeigt, war ein Wissen um die
Lokalisierung dieses Grabes im 4. Jahrhundert gar nicht mehr vorhanden. Dies ist nicht erstaunlich, wenn man sich die Zeit
zwischen dem Leben Jesu und der Hinwendung Konstantins zum Christentum vergegenwärtigt.
Die älteste Quelle zum Grab Jesu, ein Brief des Apostels Paulus an die Korinther aus den fünfziger Jahren des 1. Jahrhunderts,
verrät keinerlei Kenntnis seiner Lage. Paulus spricht im Anschluss an Überlieferung davon, Jesus sei nach seinem Tod begraben
worden. Diese Aussage bekräftigt die Tatsächlichkeit des Todes Jesu und lässt sich schwerlich dahingehend verwerten, dass
den Christen der Ort des Begräbnisses Jesu bekannt gewesen sei.
Außerhalb der paulinischen Briefe finden sich vor dem Jahre 70, dem Datum der Zerstörung Jerusalems, überhaupt keine Hinweise
auf das Grab. Der älteste Evangelist, Markus, berichtet
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