Wer war Jesus
habe Gott ermordet, entstammt frühchristlicher Tradition. Sie ist zuerst nachweisbar bei Bischof
Melito von Sardes gegen Mitte des 2. Jahrhunderts (»Gott ist getötet worden, der König Israels beseitigt worden von Israels
Hand«) und gehört seitdem zum festen Arsenal christlicher Judenfeindschaft. Erst das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils
»über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen« nahm die im Vorwurf des Gottesmordes implizierte These
der jüdischen Kollektivschuld zurück, hielt aber weiter an der belastenden Aussage fest, die jüdischen Obrigkeiten hätten
mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen.
Der Inhalt der vier neutestamentlichen Evangelien bestätigt die Auffassung, dass die jüdische Führung den Tod Christi verlangt
hat. Indes lassen bereits Eigenart und geschichtlicher Kontext der Evangelien Skepsis gegenüber der These aufkommen. Die Evangelien
(deren unbekannte Verfasser in diesem Text bei ihren traditionellen Namen genannt werden) werben zunächst für den Glauben
an den Gottessohn Jesus Christus und sind erst in zweiter Linie historische Berichte. Hinsichtlich ihres literarischen Verhältnisses
zueinander gilt die Faustregel: Matthäus, Lukas und in einem geringeren Maße Johannes benutzen das Markusevangelium.
Die Leidensgeschichte des Markus wird vorbereitet durch drei Leidensweissagungen Jesu, die das Evangelium geradezu strukturieren.
Ihr antijüdischer Inhalt: Jesus zieht nach Jerusalem, um von den |42| Oberen der Juden zu Tode gebracht zu werden. Angesichts dessen ist es nicht mehr verwunderlich, dass später alle Hohenpriester,
Ältesten und Schriftgelehrten Jesus zum Tode verurteilen und ihn Pilatus ausliefern. Dieser will Jesus losgeben, weil er »erkannte,
dass ihn die Hohenpriester aus Neid überstellt hatten«. Sein Ansinnen wird dann aber von den jüdischen Führern verhindert.
Pilatus kann sich ihnen gegenüber nicht durchsetzen.
Die Tendenz, den Juden die Schuld am Tode Jesu in die Schuhe zu schieben, nimmt in den Passionsgeschichten der anderen drei
Evangelien noch zu. Die Zielsetzung des Matthäus ist aus folgenden Ergänzungen zum Markus-Text zu erkennen:
a) Die Frau des Pilatus lässt ihrem Mann ausrichten: »Nichts soll es geben zwischen dir und jenem Gerechten; denn ich habe
heute vieles erlitten im Traum um seinetwillen.« Eine römische Frau wird zur Unschuldszeugin, während das jüdische Volk, angestachelt
von seinen Führern, den Tod Jesu fordert und Schuld auf sich lädt.
b) Als Pilatus erkennt, dass das jüdische Volk die Kreuzigung Jesu verlangt, nimmt er, so Matthäus, Wasser, wäscht sich vor
dem Volk die Hände und sagt: »Ich bin unschuldig am Blut von diesem; seht ihr zu!« Pilatus bekräftigt demnach das Urteil seiner
Frau: Jesus ist als Gerechter unschuldig.
c) Der erste Evangelist lässt das jüdische Volk im Rahmen des Prozesses Jesu sogar sagen: »Sein Blut komme über uns und über
unsere Kinder«, nämlich – so hat man zu ergänzen – wenn er unschuldig ist. Für Matthäus, der an der Unschuld Jesu natürlich
keinen Zweifel hat, heißt das: Die jüdischen Ankläger haben die blutige Strafe, die sie für den Tod Jesu tragen müssen, selber
heraufbeschworen. Dem entspricht, dass Matthäus, ebenso wie Markus und Lukas, in der Ablehnung Jesu den Grund für die spätere
Zerstörung Jerusalems durch die Römer sieht.
Lukas folgt im Bericht von der Verhandlung vor Pilatus zumeist dem Text des Markus, fügt aber den Vorwurf der Juden hinzu,
dass Jesus »unser Volk aufhetzt und verhindert, dem Kaiser Steuern zu zahlen«. Da die Leser wissen, dass Jesus ausdrücklich
die Zahlung |43| von Steuern bejaht hatte (»gebt, was des Kaisers ist, dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott«), erkennen sie: Jesu Gegner lügen.
Das jüdische Vorgehen gegen Jesus ist daher in einer üblen Verleumdung begründet, auf die Pilatus aber nicht hereinfällt.
Die Judenfeindschaft des Lukas erreicht darin einen Höhepunkt, dass in seinem Evangelium Juden – und nicht Römer – Jesus hinrichten.
Dies geschieht durch literarische Manipulation der Markus-Vorlage, so dass Pilatus im revidierten Text Jesus dem Willen der
Juden übergibt.
Johannes steigert die Schuld der Juden am Tode Jesu weiter. An die Stelle des Verhörs vor dem Hohen Rat setzt er eine kurze
Befragung durch den Hohenpriester und berichtet dann ausführlich von dem Prozess vor Pilatus. An ihm sind die Juden
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