Wer war Jesus
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Jedes Nachdenken darüber, wie ein biblischer Text heute verstanden werden kann, tut gut daran, sich zunächst über die Absicht
und den historischen Wert des Textes klarzuwerden. Dies gilt in erhöhtem Maße für die Geschichte vom Kindermord des Herodes,
die Matthäus erzählt. Der erste Evangelist schildert, wie der König über Judäa, Herodes, und die jüdische geistliche Führung
gemeinsame Sache gegen das neue Königskind machen – Herodes, weil er um seine Macht fürchtet, und Jerusalem mit seinen Führern,
weil sie nicht an den Messias Israels glauben wollen, obwohl sie wissen, dass Jesus der erwartete Messias ist. Ihre Unbelehrbarkeit
illustriert Matthäus in der Passionsgeschichte, wo »das ganze Volk« über Jesus sagt: »Sein Blut komme über uns und unsere
Kinder« (Kapitel 27, Vers 25).
Damit schreibt der erste Evangelist den nicht an Christus glaubenden Juden die Schuld an seiner Ermordung zu und bereitet
so den christlichen Antisemitismus vor. Das Evangelium ist Matthäus zufolge allein für die Heiden bestimmt. Diese werden in
der Geburtsgeschichte bereits durch die Magier repräsentiert.
Bei der Bestimmung des historischen Wertes ist zu beachten: Die Magier sind Idealpersonen, und eine Harmonie zwischen König
Herodes und der jüdischen geistlichen Führung – den Hohenpriestern und Schriftgelehrten – sowie ganz Jerusalem ist undenkbar,
denn Herodes war dort verhasst. Er galt als grausamer Despot. (Letzteres erklärt, warum man ihm den Kindermord zuschreiben
konnte.) Außerdem war Herodes zum Zeitpunkt der Geburt Jesu schon gestorben. Und schließlich hat weder die jüdische geistliche
Führung noch das jüdische Volk die Tötung Jesu betrieben. Demnach |86| ist die Erzählung eine reine Fiktion. Dieses negative Ergebnis enthält eine positive Botschaft: der Antijudaismus, der in
der gesamten Geschichte des christlichen Abendlandes fatale Auswirkungen für die Juden gehabt hat, kann sich nicht auf den
von Matthäus erzählten Hergang der Geschichte berufen.
An die Kritik am biblischen Text des Matthäus anknüpfend schlage ich ein weiterführendes Verständnis vor, das sich aus einem
Blick auf 2000 Jahre Christentum und teilweise aus meinen eigenen Erfahrungen speist.
Die im Text berichtete Harmonie zwischen dem König von Judäa, Herodes, und den geistlichen Führern der Juden entspricht der
Gemeinschaft von Thron und Altar, die seit Konstantin im 4. Jahrhundert auch die Geschichte des Abendlandes geprägt hat. Trotz
aller Konflikte untereinander hat diese Gemeinschaft zur Ausbreitung des Christentums enorm beigetragen, zugleich aber auch
eine lange Blutspur hinterlassen. Denn obwohl Jesus, an den man als den Herrn der Kirche glaubte, die Gewaltlosigkeit gepredigt
hatte, wurden Mitchristen, die von der rechtgläubigen Lehre abwichen, bis an die Schwelle der Neuzeit getötet.
Das Verhältnis von Staat und Kirche ist, obwohl wir keine Monarchie und seit der Weimarer Verfassung keine Staatskirche mehr
haben, bis in unsere Gegenwart vom Modell »Thron und Altar« geprägt. Die Kirchen erhalten vom Staat jährlich weiterhin rechtlich
abgesicherte hohe Zuwendungen und sind in Deutschland der zweitgrößte Arbeitgeber.
Die Tatsache, dass Kirche ein Staat im Staat ist, mit eigenen Behörden und Gerichten, hat dazu geführt, dass sie in Bekenntnis
und Liturgie trotz oftmaliger Reformwellen geblieben ist, was sie schon immer war, eine antike Religion mit Gott als Schöpfer
und Christus als den Herrscher.
Angesichts dieser dogmatischen Erstarrungen nimmt es nicht wunder, dass der neue Atheismus in der deutschen Bevölkerung so
gut ankommt. Denn die Kirchen haben es versäumt, darüber aufzuklären, dass sie den Glauben alten Stils gar nicht mehr teilen
und |87| sich beispielsweise trotz der Annahme der Evolution doch auf die Bibel berufen und weiterhin Christen sind. Die neuen Atheisten
könnten der Kirche daher ungewollt einen Dienst leisten, wenn diese sich durch sie anspornen ließe, ihren antiken Glauben
unter den Bedingungen der Moderne neu zu formulieren. Die Frage nach dem, was Jesus wirklich sagte und was ihm erst von späteren
Christen angedichtet wurde, mag dabei eine entscheidende Hilfestellung geben.
|88| 22. Zwischen Dogma und Wirrwarr 1
Auf die Frage, was christlich ist, gibt es in der evangelischen Kirche ebenso viele Antworten wie Geistliche. Nach einer drei
Jahre lang geführten heftigen Debatte wollte die
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