Wer war Jesus
christlichen Kirche angehören, einen akademischen Grad an theologischen
Fakultäten erwerben. Das deutsche Staatskirchenrecht behindert so die Entfaltung des mächtigen Potentials, das die deutsche
Bibelwissenschaft einst besaß.
Tatsächlich kann besonders die deutsche evangelische Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts eine imponierende Leistungsbilanz
vorweisen und ist ein wichtiger Bestandteil europäischer Geistesgeschichte. Albert Schweitzer fasste ihre Bedeutung so zusammen:
»Wenn einst unsere Kultur als etwas Abgeschlossenes vor der Zukunft liegt, steht die deutsche Theologie als ein größtes und
einzigartiges Ereignis in dem Geistesleben unsrer Zeit da.« Schweitzer bezog sich damit auf die historisch-kritische Erforschung
des frühen Christentums, die sich erst nach harten Kämpfen gegen die kirchliche Dogmatik ungestört entfalten konnte.
Die historische Methode beruht auf der Voraussetzung, dass die Erforschung geschichtlicher Phänomene sachgemäß nur unter Berücksichtigung
ihres Kausalzusammenhangs, ihrer Wechselbeziehungen und ihrer Analogien erfolgen kann. Ihre Arbeitsweise folgt dem methodischen
Atheismus der neuzeitlichen Wissenschaft (der von einem dogmatischen Atheismus zu unterscheiden ist). Befreit von metaphysischen
Voraussetzungen und ausgerüstet mit dem Instrumentarium historischer Kritik, hat die Theologie als wissenschaftliche Disziplin
geradezu eine kopernikanische Wende für alle Kirchen- und Religionsgemeinschaften zur Folge. Ihr Siegeszug durch die Universitäten
der letzten drei Jahrhunderte ist eindrücklich. Sie hat sich in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen behauptet und völlig
neue Einsichten gewonnen. Die historische |94| Methode ist Teil des emanzipatorischen Prozesses wissenschaftlicher Neugierde. Sie möchte Sinngebungen nachvollziehen, das
heißt verstehen, und muss sich, will sie denn Objektivität anstreben und die Welt entzaubern, gerade deshalb von allen ihr
begegnenden fremden Ansprüchen befreien:
befreien vom Anspruch des kanonischen Status bzw. der Heiligkeit bestimmter Schriften, denn für wissenschaftliche Exegese
gibt es zwischen heiligen und unheiligen Schriften keinen Unterschied;
befreien vom Anspruch einer Offenbarung, da Offenbarung kein wissenschaftlicher Begriff ist;
befreien vom Anspruch, zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei in einem über die Prüfung historischer Ansprüche hinausgehenden
Sinn zu unterscheiden, denn hier stehen nicht entscheidbare dogmatisch-theologische Urteile einander gegenüber.
Die historische Methode verweigert eine Antwort auf die religiöse Wahrheitsfrage und kann nur verschiedene Wahrheitsansprüche
registrieren und miteinander vergleichen. Sie ist darin ideologiekritisch. Als geschichtswissenschaftliches und philologisches
Instrument ist sie den Methoden der Geisteswissenschaften in all ihren Ausprägungen verpflichtet. Entscheidend bei der Übernahme
neuer Methoden aus den Nachbardisziplinen ist deren Überprüfbarkeit und Effizienz in der Aufhellung geschichtlicher Phänomene.
Ihre Voraussetzungen müssen revidierbar bleiben und können immer nur durch ihre erklärende und deutende Wirkung, aber nicht
durch einen theologischen Machtwillen in Geltung gehalten werden.
Da die Kirchen die theologischen Fakultäten als Teil ihrer selbst verstehen und diesen Besitzstand um jeden Preis zu wahren
suchen, scheint jegliche Reformbemühung aussichtslos. Ich plädiere dafür, dass Departments of Religion die theologischen Fakultäten
ersetzen.
Die Aufklärung lässt sich auf Dauer nicht an die Ketten des Dogmas legen. Sie stürzt wie ein brausender Strom heran, gegen
den alle Glaubensschleusen und -dämme machtlos sind.
|95| 25. Muss ein Theologieprofessor gläubig sein? 1
Als theologisches Erstsemester besuchte ich jeden Sonntag den Universitätsgottesdienst in der Göttinger St. Nikolaikirche.
Dort predigten die Professoren der Theologischen Fakultät, deren Worten von der Kanzel wir Studenten andachtsvoll lauschten.
Während der Woche trafen wir die Hochschullehrer wieder; sie machten uns dann im Hörsaal vom Katheder aus mit der historischen
Kritik der Bibel bekannt.
Mit der Zeit nahm die Zahl meiner Gottesdienstbesuche jedoch ab und neigte sich am Ende des zweiten Semesters sogar gegen
Null. Ich hatte Schwierigkeiten, das auf der Kanzel Gesagte mit dem im Hörsaal Gelernten zu vereinbaren, und fand es zusehends
unbegreiflich, wie ein und dieselbe
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