Wer war Jesus
Theologie und Kirche, welche die Bibel als Richtmaß nehmen, die Religions- und Gewissensfreiheit – Toleranz
– ohne taktische Hintergedanken schwerlich gutheißen. Denn Toleranz bedeutet, die Menschenwürde auch ohne ausdrückliche oder
stillschweigende Berufung auf Gott unbedingt anzuerkennen. Damit wird sich der eifernde, Gehorsam fordernde Jahwe der Bibel
nie abfinden.
|17| JESUS
4. Wer war Jesus? 1
Jesus stammt vom Lande. Ein dörfliches Milieu prägt seine Predigt. Sie nennt den Sämann auf dem Acker, den Hirten mit seiner
Herde, die Vögel unter dem Himmel oder die Lilien auf dem Felde. Das winzige Senfkorn im Garten wird dem Dorfmenschen Jesus
zum Bild für das sichere Kommen des Reiches Gottes – für damalige Juden der zukünftige Vollendungszustand, wenn Gott allein
und unbestritten als König herrschen wird.
Aufgewachsen ist Jesus mit mehr als fünf Geschwistern in dem galiläischen Ort Nazareth. Seine Muttersprache war Aramäisch,
was nicht ausschließt, dass er einige Brocken Griechisch verstanden hat. Wie die meisten seiner Zeitgenossen konnte Jesus
weder lesen noch schreiben. Er arbeitete als Zimmermann. In der heimatlichen Synagoge lernte er Partien aus der Thora auswendig
– nicht nur viele Einzelgebote, sondern auch spannende Erzählungen von den Wunderpropheten Elia und Elisa.
Ein Blick auf den Apostel Paulus, der Jesus persönlich niemals begegnet ist, lässt die Grenzen von Jesu Umfeld erkennen. Paulus
kam nicht vom Dorf, sondern war Städter. Seine Briefe, die in passablem Griechisch geschrieben sind, spiegeln das Stadtleben
wider. In ihnen finden sich Hinweise auf das Rechtsleben, auf Theater und Wettspiele. Jesus dagegen hat wohl niemals ein Theater
oder eine Arena gesehen. Dabei war die von griechischer Kultur geprägte Stadt Sepphoris, wo Jesus als Zimmermann Arbeit gefunden
hätte, keine fünf Kilometer von Nazareth entfernt. Von Abkunft und Bildung |18| her standen sich in Paulus und Jesus zwei verschiedenen Welten gegenüber. Bei einem Treffen hätte Paulus gegenüber einem solchen
Naturburschen wie Jesus nur mit den Achseln gezuckt, dieser aber die spitzfindige theologische Argumentation des Paulus mit
Kopfschütteln quittiert.
Indes stimmten trotz aller Unterschiede Jesus und Paulus in wesentlichen Punkten überein. Als Juden glaubten sie an den einen
Gott, der Himmel und Erde gemacht und Israel als sein Volk erwählt hatte. Beide lebten in der Gewissheit, Jerusalem sei Mittelpunkt
der ganzen Welt. An diesem Ort sollte am Ende der Tage der »Retter« erscheinen; hier befand sich das kultische Zentrum des
Judentums, der Tempel. Gleichzeitig hielten die von Gott angeordneten großen Feste wie Passah, Pfingsten und Laubhüttenfest
den Zyklus des Jahres zusammen. Dieses Grundgerüst religiöser Überzeugungen teilten Jesus und Paulus mit den meisten Juden
ihrer Zeit.
Einen wichtigen Anstoß erhielt Jesus von Johannes dem Täufer, der in der Wüste lebte. Er stand in einer langen Reihe von jüdischen
Unheilspropheten, die angesichts des bevorstehenden »Tages Gottes« zur Umkehr mahnten. Zugleich verband er seine Predigt mit
der Ansage einer Sündenvergebung, die jenen zuteil werden sollte, die sich von ihm taufen ließen. Damit sei gewährleistet,
dass sie dem bevorstehenden Endgericht entgehen könnten. Seine Verkündigung zündete wie der Blitz und führte zahlreiche Juden,
darunter Jesus, zu ihm an den Jordan.
Die Mitglieder der Priesteraristokratie in Jerusalem dürften über den Sonderling am Jordan und seine Anhänger irritiert gewesen
sein. Hatte Gott nicht ihnen allein den Tempeldienst, der Sühne und Sündenvergebung bewirkte, anvertraut? Für die Machthaber
wurde es spätestens dort brenzlig, wo Johannes« Gerichtspredigt auf den politischen Bereich übergriff. Dies bekam der Landesherr
Jesu, Herodes Antipas, zu spüren, als Johannes dessen thorawidrige Eheschließung mit einer Verwandten anprangerte. Daraufhin
ließ Antipas den Täufer kurzerhand als einen Aufrührer hinrichten.
|19| Wie lange sich Jesus in der Umgebung des Täufers aufgehalten hat, bleibt unklar. Doch zeigt die in den Evangelien sichtbare
Rivalität zwischen Jesus- und Johannesjüngern, dass Jesus schon bald nach seiner Taufe durch Johannes eigene Wege gegangen
sein muss. Dieser Aufbruch war bei Jesus mit zweierlei verbunden: Ihm behagte auf Dauer die asketische Grundhaltung des Johannes
nicht. Ferner entdeckte Jesus in sich die
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