Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
Hauptmerkmal der Sean-Nos ist die komplexe Ausschmückung oder Variation in der Melodie. Der Sänger hält die Stimme auf einer einzigen Note, was als melismatische Verzierung bezeichnet wird, oder er lässt seine Stimme beben und vibrieren. Eine weitere für diese Gesangsart typische Technik besteht in verschiedenen Intervallen zwischen einzelnen Noten einer Melodie, die dann in eine einzige Note münden. Edith Piaf hat diese Technik häufig angewandt, die, mit einer gewissen Zurückhaltung dargeboten, unglaublich erotisch wirkt. Die Lieder sind wie Menschen, sagen die Iren – man muss sie kennenlernen. Man kann ein Lied nicht einfach singen, sondern muss seine Persönlichkeit einfließen lassen, und manchmal beherrscht man einen Song erst nach mehreren Jahren wirklich.
Es war ein echtes Vergnügen, in einem Pub in Cork zu sitzen, inmitten von begeisterten, frenetisch klatschenden, freundlichen Menschen und jeder Menge leckerem Essen. Nach einer halben Stunde denkt man unweigerlich »Heiliger Strohsack«, und ständig dreht sich alles um die Mutter. Entweder sie stirbt, oder sie ist schon tot, oder das Herz wird ihr gebrochen, weil ihre Tochter ein übles Flittchen ist, das lieber in der Disco herumhängt statt zu Hause zu bleiben und die Butter zu schlagen. Irische Mütter leiden ganz besonders in den Liedern und lassen ihre Söhne erst nach langem, heftigem Ringen gehen. Wenn ein Mann auf dem Land noch unverheiratet ist, lebt er zu Hause und betreibt den elterlichen Hof. Und wenn es keinen Hof gibt, zieht er nicht etwa in eine eigene Wohnung, sondern bleibt »zu Haus«, wo er, wie man sich unschwer vorstellen kann, mit Frauen nichts zu schaffen hat (die ihn ohnehin nur der geliebten Mutter wegzunehmen versuchen würden), und die geliebte Mutter zu verlassen – absolut undenkbar.
Anmerkung: Bitte vergessen Sie nicht, dass man sich bei Totenwachen nicht mehr auszieht, aber wenn Ihnen danach ist, mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke zu stehen und zu wehklagen, werden das bestimmt alle grandios finden.
Karaoke
Es gibt keine Rechtfertigung für die Teilnahme an Karaoke-Abenden – stattdessen ist es lediglich Gottes Methode, Ihnen zu sagen, dass Sie zu viel getrunken haben. Die Musik ist entsetzlich und normalerweise nichts als ein sinnloses, ödes Hämmern. Dank des künstlich erzeugten Halls glaubt jeder, der zum Mikrofon greift, automatisch, er könne singen, aber das ist nicht so. Sie können nicht singen. Wenn meine Freunde hingegen ihre Ukulelen zücken, bin ich jedes Mal begeistert. Ich weiß, dass es erbärmlich klingt, aber es macht unglaublichen Spaß. Und finden Sie es nicht auch hochinteressant, wie sich bei vielen Menschen mit steigendem Alkoholpegel auch die Überzeugung festigt, sie könnten singen? Doch meine Ukulele-Spieler, allesamt talentierte Jazz-Musiker, wären die Letzten, die jemanden an der Teilnahme hindern würden, nur weil sie klingen wie eine leere Blechdose.
Anmerkung: Karaoke führt zu dramatischen Fehleinschätzungen des eigenen Benehmens und somit automatisch zu Gesichtsverlust.
MOANA
Moana Maniapoto hat mir erzählt, sie singe schon ihr ganzes Leben innerhalb ihrer Familie, sie kann sich nicht einmal mehr erinnern, dass sie es nicht getan hat. Das ist Tradition in Maori-Familien. Ihr Vater hatte eine Gitarre und sang mit ihren Brüdern im marae (dem Versammlungshaus), und ihre pakeha (sprich, europäischstämmige) Mutter stammte ebenfalls aus einer musikalischen Familie, in der die Großmutter bei Gartenpartys Klavier spielte. Bei ihnen fanden regelmäßig Partys mit viel Spaß und Gesang in der Garage statt. Während Moana ihr Jura-Studium absolvierte, verdiente sie sich als Sängerin etwas dazu, doch nach ihrem Abschluss beschloss sie, dem Singen treu zu bleiben, weil ihr das Leben als Anwältin allzu trist erschien. Sie hat ihren Entschluss nie bereut und gehört heute zu den bedeutendsten Sängerinnen Neuseelands. Jeder kennt sie. Ihre Musik ist eine Fusion aus traditionellen Elementen und modernem Rock/Pop. Rein zufällig ist sie auch noch bildhübsch. Ich habe sie gefragt, wie sie sich fühlt, wenn sie singt.
»Es ist ein absolut magisches Erlebnis, weil man für die Dauer des Songs sein eigenes Universum erschafft und das Publikum wie in einen Strudel mitreißt und eine Beziehung zu ihm aufbaut. Natürlich stellt sich niemand ohne ein gewisses Ego oder den Wunsch nach Aufmerksamkeit auf die Bühne, trotzdem überfällt auch mich von Zeit zu Zeit das Lampenfieber, wenn
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