Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
besonders niedrig ist. Deshalb verspüren wir beim Aufwachen manchmal eine gewisse Traurigkeit, deshalb leiden Frauen unter postnataler Depression und sind Alzheimer-Patienten häufig übellaunig oder gar zornig. Nach körperlicher Betätigung und Sport, während dem Sex und nach dem Genuss bestimmter Lebensmittel wie Schokolade ist der Endorphinspiegel am höchsten. Damit will ich sagen, dass es uns, indem wir ständig diese American-Dream-Mentalität und diesen erbarmungslosen Zwangsoptimismus an den Tag legen, nicht länger gestattet ist, in durchaus gesunden und unterschätzten Zuständen wie Melancholie, Morbidität oder schlichter Traurigkeit zu schwelgen. Niemand will hören, wenn wir unser Schicksal beklagen, und genau deshalb sind traurige, sentimentale Lieder so wichtig für uns.
Edith Piaf
»Ich bin die Geliebte, meine Lieder müssen traurig sein, ein Schrei des Herzens, das ist mein Leben«, sagte die französische chanteuse Edith Piaf einmal. Ihre Lieder künden von alles verzehrender Leidenschaft, sind eindringlichste Schwüre ewiger Treue und Ausdruck abgrundtiefen Selbstmitleids, dass, wenn alles schiefgeht, wenigstens die Liebenden im Himmel schwelgen können, statt in diesem Meer aus Tränen ertrinken zu müssen. Sie sang von Verrat, von Sex, Spaß, von Drogen und von übelster Täuschung. Es hieß, sie live auf der Bühne zu sehen, käme einem Geständnis unter vier Augen gleich, und so brachen die Leute häufig bei ihren Auftritten in Tränen aus. Wenn man die persönlichen Schicksalsgeschichten der Sänger und Sängerinnen trauriger Lieder liest, verleiht dies ihrem Vortrag eine zusätzliche Dimension der Traurigkeit und beflügelt die Fantasie des Publikums umso mehr. Piaf hat einen hohen Preis für ihren Ruhm bezahlt, indem sie der ganzen Welt ihre Einsamkeit und ihr Leid zeigte, die Komplexität ihrer gequälten Seele und ihre düstersten Regungen in ihre Darbietungen legte, so weit, dass sie auf der Bühne beinahe starb. Sie verlor das Bewusstsein, geriet ins Straucheln, konnte ihre Auftritte nicht beenden und ließ Lieder aus, die zu schwer für sie waren, doch natürlich starb sie nicht. Gegen Ende ihrer Laufbahn, als sie lediglich nach einer beträchtlichen Dosis Heroin die Bühne betreten konnte, kam das Publikum teilweise aus einer Art gruseliger Faszination, um zu sehen, ob sie ihn zu Ende bringen konnte oder nicht. Bei ihrem Tod 1963 war sie erst Mitte vierzig, jedoch eine winzige, verkrüppelte, deformierte alte Frau mit beinahe bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsenen Zügen.
Anmerkung: Piaf-Songs sind sehr emotional und regelrecht kathartisch, aber durchaus den Aufwand wert, weil sie alle Anwesenden zu Tränen rühren.
Jacques Brel
Der belgische Sänger Jacques Brel hatte eine geradezu atemberaubende Bühnenpräsenz. In einem seiner Lieder spricht er von Frauen, die es so gut beherrschen, jemanden bei lebendigem Leib zu verspeisen, dass eigentlich ihre Zähne schmerzen müssen. Für ihn waren Frauen entweder erbarmungslose Miststücke oder sanftmütige Engel. Er ließ seine Lieder zu Gemälden werden und bestand darauf, seinem Publikum mit seinen Auftritten ein Erlebnis von ganz besonderer Eindringlichkeit zu schenken. Er zwang es, seine Gefühle mit ihm zu teilen und mit ihm zu leiden, nach Atem zu ringen und förmlich seinen Schweiß zu riechen. Er war von einer geradezu beängstigenden Klarheit, von finsterster psychischer Schwärze und verströmte die Aura unsäglicher Verzweiflung. Was die Menschen am meisten an seinen Liedern mitriss, war seine Erotik, die Rebellion, das Lachen, vor allem jedoch das Gefühl der Zugehörigkeit. Brel sang jedes Lied, als wäre es sein letztes, und war nach einem Konzert am Ende seiner Kräfte. Während eines einzigen anderthalbstündigen Auftritts verlor er 800 Gramm Körpergewicht, sein Anzug war klatschnass. Und sein Publikum war kaum weniger erschöpft.
Mein Lieblingschanson von ihm ist »Voir un ami pleurer« – »Einen Freund weinen sehen«. Es ist ein sehr schlichtes und unsäglich berührendes Lied, in dem sich für Brel aller Schmerz vereinte. Wie viele Male haben wir einen Freund weinen sehen und wissen, wie einsam man dabei ist. Bis heute weiß niemand, was man tun kann, um jemandem seinen Schmerz zu nehmen. Er singt dieses Lied mit unendlicher Traurigkeit und lässt die letzte Strophe ungesungen verklingen, damit der Zuhörer die Worte in seinem eigenen Herzen erspürt. Wie der Tod der Piaf vor ihm hat auch sein früher Krebstod
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