Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
stämmiger Mann mittleren Alters in schwarzer Hose und weißem Hemd betrat die Bühne und setzte sich. Kurz darauf trat der Gitarrist zu ihm und setzte sich leise neben ihn. Der Mann legte die Hände auf die Knie, warf den Kopf in den Nacken und sang mit dem, was die Spanier als duende bezeichnen – Seele, Herzblut, hypnotische Energie. Wie Fado-Interpreten brauchen auch Flamenco-Sänger die Kommunikation mit dem Publikum. Immer wieder stand der Sänger auf und bat das plappernde Publikum darum, ruhig zu sein und dem Lied den verdienten Respekt zu zollen. Der Sänger muss den Kontakt zu seinem Inneren herstellen und von einer leidenschaftlichen Ernsthaftigkeit ergriffen sein, die er erbarmungslos nach innen kehrt. Sieht man einem Flamenco-Interpreten das erste Mal live zu, ist es beinahe so, als beobachte man etwas zutiefst Intimes. Jedes Lied begann er mit einem Stöhnen, das als ayeo bezeichnet wird, und rieb die Hände in einem leisen Klatschen aneinander, ehe er Stück für Stück in einen harschen, ausgeschmückten Gesang fiel, begleitet von den intimen Klängen der Gitarre. Wie beim Fado scheinen der Interpret und der Gitarrist in eine Art Zwiegespräch verwoben zu sein und sind völlig aufeinander fixiert, ohne ihre Umgebung zu bemerken.
Paco Peña ist einer der großen Flamenco-Gitarristen der Gegenwart.
Die Stimme des Sängers ist unglaublich kräftig, und natürlich wird ohne Verstärker gesungen, so dass seine Stimme den ganzen Raum ausfüllen muss. Der Gesang scheint aus den Tiefen seiner Seele zu kommen und klingt extrem guttural und orientalisch, mit unüberhörbaren indischen und arabischen Einflüssen. Es hört sich an, als leide der Darbietende körperliche Schmerzen, er schnappt nach Luft, jammert, weint, stampft mit dem Fuß auf und streckt die Arme aus, als bettle er darum, von seinem körperlichen Schmerz erlöst zu werden. Manchmal, nach besonders anstrengenden Auftritten, springt das Publikum von den Stühlen auf und feuert den Künstler mit aufmunternden Olé-Rufen an, wie in einer Oper, wenn der Sänger mühelos die höchste Note einer Arie hinausgeschmettert hat. Flamenco-Musiker scheinen förmlich in ihrer spirituellen Essenz aufzugehen, so als würde ihr Bewusstsein von der Emotion überwältigt werden. Die Düsternis des Gesangs steht in krassem Gegensatz zur Lebendigkeit des Tanzes. Bei keiner anderen Musikrichtung habe ich so sehr das Gefühl, Teil davon zu sein wie beim Flamenco; es ist fast, als spielte ich meine eigene Rolle, als würde ich regelrecht in die Darbietung hineingezogen und als schlüge mein Herz im Takt der Musik. Am Ende jedes Liedes war der Sänger vollkommen erschöpft und schweißüberströmt, während das Publikum frenetisch applaudierte.
Anmerkung: Wenn Sie dazu neigen, sich in schwitzende Flamenco-Sänger zu verlieben, klatschen Sie einfach, was das Zeug hält.
Sean-Nos
Der irische Sean-Nos-Gesang ist eine traditionelle Gesangsform ohne Begleitung aus dem 17. Jahrhundert, die ihren Ursprung wahrscheinlich in den provenzalischen Troubadour-Gesängen des 13. und 14. Jahrhunderts hat. Die Mehrzahl der Lieder stammt aus dem 18. Jahrhundert, und es handelt sich fast ausschließlich um Klage- oder Liebeslieder. Wie bei den Klageliedern in allen Kulturen besteht auch hier eine enge Verbindung zwischen Vortragendem und Publikum. Oft kennt das Publikum die Hintergrundgeschichte, so dass eine Art Gemeinschaftsgefühl entsteht. Das Publikum reagiert auf die Darbietung mit kurzen Kommentaren, als erzähle der Sänger die Geschichte ihnen allein, und allerlei Ermutigungen, indem die Zuhörer die letzte Liedzeile laut mitsingen oder gar die Hand des Sängers mitten im Vortrag ergreifen und drücken. Viele Male habe ich in Irland alte Leute bei einem Lied weinen sehen, besonders bei jenen von zum Tode verurteilten Nationalhelden oder Fällen schweren Landesverrats. Die Darstellung des Sängers ist distanziert, beinahe tranceartig und somit ganz anders als beim Fado, wo große Leidenschaft und Emotion im Spiel sind. Sean-Nos haben einen aristokratischen, literarischen Hintergrund von gesellschaftlicher Zurückhaltung und Förmlichkeit, wohingegen Fado und Flamenco aus den Slums der Städte stammen und Fusionen verschiedener Musikstile sind. Die Eindringlichkeit entsteht nicht durch das gefühlvolle Vibrato oder dramatische Szenen, sondern eher durch die subtile, fast distanzierte Art der Darbietung, wodurch die Schönheit der Musik quasi für sich selbst spricht.
Das
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