Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer Wind sät

Wer Wind sät

Titel: Wer Wind sät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
Vom Netzwerk:
Dächern der Nachbarhäuser Stellung bezogen, und man hatte sich unterdessen auf eine Vorgehensweise geeinigt. Am Lederarmband von Pias Armbanduhr hatte der Techniker des SEK ein Mikrophon angebracht. Sie sollte im Haus die Lage sondieren und zum Schein auf die Forderungen des Jungen eingehen. Würde es ihr nicht gelingen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen, so würde der Zugriff durch das SEK nach spätestens einer halben Stunde erfolgen. Marks Mutter weinte leise, sein Vater saß vornübergebeugt neben ihr, das Gesicht in den Händen vergraben. Was auch immer sie getan oder unterlassen hatten, es musste für sie entsetzlich sein, wie die Polizisten nüchtern vereinbarten, ihren Sohn im äußersten Notfall zu erschießen.
    Als Pia den Einsatzbus verließ, summte ihr Handy. Christoph! Einen Moment überlegte sie, ob sie überhaupt drangehen sollte.
    Â»Es ist gerade etwas ungünstig«, sagte sie. »Ich bin noch im Einsatz. Wo bist du?«
    Â»Auf dem Weg nach Hause. Ich habe gerade im Radio gehört, dass es in Schneidhain eine Geiselnahme gegeben hat«, erwiderte Christoph. »Sag bitte nicht, dass du etwas damit zu tun hast.«
    Â»Doch«, erwiderte sie. »Leider.«
    Eine ganze Weile sagte er gar nichts.
    Â»Ist es gefährlich?«, erkundigte er sich dann mit gefasster Stimme.
    Pia traute sich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen.
    Â»Für mich nicht«, log sie deshalb.
    Â»Okay«, sagte er. »Dann viel Glück.«
    Kaum dass er aufgelegt hatte, summte das Telefon wieder. Bodenstein! Für ihn hatte sie jetzt überhaupt keine Zeit. Sie reichte ihr Handy Christian Kröger und bat ihn, Bodenstein zu sagen, was los war. Vielleicht schaffte er es ja, sich von seiner Annika für ein paar Stunden loszureißen und herzukommen.
    Sie klemmte das Sixpack Red Bull, das ein Kollege bei der Tankstelle in Königstein besorgt hatte, unter den Arm. Dann atmete sie tief durch und überquerte entschlossen die Straße, die in der grellen Nachmittagssonne wie ausgestorben dalag. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie den kleinen Vorgarten durchquerte, die beiden Stufen zur Haustür hochging und klingelte. Das Gefühl, dass in diesen Sekunden mindestens drei Scharfschützen durch die Visiere ihrer Präzisionsgewehre jeden Schweißtropfen in ihrem Gesicht erkennen konnten, war mehr als beschissen.
    *
    Er wartete direkt hinter der Haustür auf sie und tastete sie mit einer Hand oberflächlich ab; in der anderen hielt er die Pistole. Pia wagte kaum zu atmen. Das winzige Mikrophon an ihrer Armbanduhr bemerkte er nicht. Vielleicht dachte er nicht daran, dass sie verkabelt sein könnte, oder es war ihm egal. Er trug dasselbe T-Shirt, das er schon am Samstag angehabt hatte, als er über den Balkon geflüchtet war, und roch nach altem Schweiß. Mit einer Hand öffnete er eine der Dosen, die Pia ihm mitgebracht hatte, setzte sie an und trank sie in einem Zug aus.
    Â»Wo sind Frau Franzen und Herr Theodorakis?«, fragte Pia und blickte sich um. Es war stickig, warm und sehr dunkel im Haus, nur durch die Glasscheibe neben der Haustür fiel etwas Tageslicht.
    Â»In der Küche. Und noch was …« Er ließ die leere Dose achtlos auf den Boden fallen. »Kein scheiß Psychogequatsche, okay? Ich will das Ding hier nur durchziehen, dann passiert keinem was. Aber wenn die SEK -Typen hier reinkommen, gibt’s ein Unglück. Kapiert?«
    Â»Ja, kapiert«, bestätigte Pia. Mark hatte sich verändert, seit sie vorgestern mit ihm gesprochen hatte. Seine weichen, kindlichen Gesichtszüge wirkten hart, als sei er über Nacht um zehn Jahre gealtert. Doch es war vor allem dieser unheimliche Ausdruck in seinen Augen, der Pia Sorgen bereitete. Hatte er irgendwelche Drogen genommen? Draußen hatte sie noch fest daran geglaubt, es könne ihr gelingen, Mark mit vernünftigen Argumenten zur Aufgabe zu überreden, jetzt wusste sie, dass es aussichtslos war.
    In ihrer Laufbahn bei der Polizei hatte sie schon mehrmals in solche stumpfen Augen geschaut, in die Augen von Menschen, denen alles egal war, weil sie nichts mehr zu verlieren hatten.
    Es stand nicht gut um die beiden Geiseln, die das zu wissen schienen. Theodorakis hatte lediglich die Hände hinter der Stuhllehne gefesselt, durch sein Gipsbein war er ohnehin nicht in der Lage, aufzuspringen und Mark anzugreifen. Doch an der grausamen und demütigenden Art,

Weitere Kostenlose Bücher