Wer Wind sät
Rodungsaktion war illegal, selbst wenn sie mit stillschweigendem Einverständnis des Bürgermeisters oder des Landrats geschah.
»Ihr habt genau fünf Minuten, um eure Sachen zu packen und zu verschwinden!«, rief er dem Trupp zu. Keiner rührte sich. Da legte er an, zielte auf die Motorsäge in der Hand des einen Arbeiters und zog den Abzug durch. Ein Schuss krachte. Erst im letzten Moment hatte Ludwig Hirtreiter das Gewehr ein Stück nach oben gezogen, so dass die Kugel etwa einen Meter am Kopf des Mannes vorbeiflog. Ein paar Sekunden standen die Männer wie gelähmt da und starrten ihn fassungslos an. Dann ergriffen sie Hals über Kopf die Flucht.
»Das wird Konsequenzen für Sie haben!«, schrie der Vorarbeiter ihm noch zu. »Ich rufe die Polizei an.«
»Von mir aus.« Ludwig Hirtreiter nickte nur und schulterte sein Gewehr. Niemand würde die Polizei rufen, denn damit würden sie sich nur ins eigene Fleisch schneiden, diese verlogenen Verbrecher.
Beinahe hätte er den scheinheiligen Versprechungen geglaubt. Kein Baum sollte gefällt werden, bevor nicht alles entschieden sei, das hatten sie noch am Freitag hoch und heilig versichert. Dabei mussten sie zu dem Zeitpunkt der Rodungsfirma bereits den Auftrag gegeben haben, gleich am Montagmorgen loszulegen. Er wartete, bis die Lastwagen die Lichtung verlassen hatten und das Motorengeräusch in der Ferne verklungen war, dann lehnte er das Gewehr an einen Baumstamm und machte sich daran, das Absperrband aufzuwickeln. Hier würde kein Baum mehr fallen, solange er das verhindern konnte. Er war bereit für den Kampf.
*
Pia Kirchhoff stand am Gepäckband und streckte gerade die Hand nach ihrem Koffer aus, als es in ihrer Jackentasche leise zirpte. Es dauerte einen Moment, bis sie den Ton mit ihrem Handy assoziierte, das sie kurz nach der Landung wieder angeschaltet hatte. Drei herrliche Wochen lang hatte das Handy geschwiegen und war von einem der wichtigsten Utensilien ihres täglichen Lebens zur völligen Nebensache geworden. Ihr Gepäck war momentan allerdings ungleich wichtiger als der Anruf. Christophs Koffer war einer der ersten gewesen, er war schon hinausgegangen in der Annahme, Pia werde sofort folgen, aber sie hatte geschlagene fünfzehn Minuten warten müssen, denn die Gepäckstücke von Flug Nr. LH 729 aus Shanghai erreichten das Förderband in nervtötender UnregelmäÃigkeit und mit meterweiten Abständen.
Erst als sie ihren grauen Hartschalenkoffer auf den Gepäckwagen gewuchtet hatte, kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Telefon. Lautsprecheransagen schallten durch die Halle, jemand rammte ihr unsanft seinen Gepäckwagen in die Waden und brachte nicht einmal eine Entschuldigung über die Lippen. Ein weiteres Flugzeug hatte seine Passagiere ausgespuckt, vor der Zollabfertigung gab es einen Stau. Endlich fand Pia das unermüdlich zirpende Handy und ging dran.
»Ich bin grad beim Zoll!«, rief sie. »Rufen Sie später noch mal an!«
»Oh, entschuldige bitte«, erwiderte Hauptkommissar Oliver von Bodenstein am anderen Ende der Leitung. Ihr Chef klang belustigt. »Ich dachte, ihr wärt gestern Abend zurückgekommen.«
»Oliver!« Pia stieà einen Seufzer aus. »Tut mir leid. Unser Flug hatte neun Stunden Verspätung, wir sind eben erst gelandet. Was gibtâs?«
»Ich hab ein kleines Problem«, antwortete Bodenstein. »Wir haben eine Leiche, aber heute um elf ist die standesamtliche Trauung von Lorenz und Thordis. Wenn ich da nicht auftauche, bin ich bei meiner Familie völlig unten durch.«
»Eine Leiche? Wo?« Pia wollte an der Zollabfertigung vorbeigehen, aber eine kleine, dicke Zollbeamtin, die mit ausdrucksloser Miene die vorbeigehenden Passagiere beobachtete, hob die Hand. Offensichtlich hatte Pias letzte Bemerkung ihr Interesse geweckt. ÃuÃerst unklug, wenn man es eilig hatte.
»In einem Firmengebäude in Kelkheim«, sagte Bodenstein. »Die Meldung kam eben rein. Ich schicke unseren Neuen hin, aber es wäre mir lieb, wenn du auch hinfahren könntest.«
»Haben Sie etwas zu verzollen?«, schnarrte die Beamtin.
»Nein.« Pia schüttelte den Kopf.
»Wie â nein?«, fragte Bodenstein erstaunt.
»Nein, ich meine â ja«, entgegnete Pia genervt. »Nein, ich habe nichts zu verzollen. Ja, ich fahre hin.«
»Was denn jetzt?« Die Zöllnerin hob die
Weitere Kostenlose Bücher