Wer Wind sät
hören würde, wenn er um Hilfe schrie.
*
»Pia!«, brüllte Bodenstein, aber er sah nur fremde Gesichter, in Todesangst geweitete Augen, aufgerissene Münder. Direkt vor ihm ging eine ältere Frau zu Boden, er konnte ihr nicht helfen, denn die Menge zog ihn unerbittlich mit. Finger zerrten an seinem Jackett, ein Ellbogen krachte schmerzhaft in seinen Magen, er trat auf irgendetwas Weiches und spürte, wie eine Welle der Panik in ihm hochbrandete.
Ruhig bleiben, beschwor er sich. Aber verschwommene Erinnerungen aus seiner Zeit bei der Bereitschaftspolizei schossen durch seinen Kopf, Bilder von zerquetschten Leibern, von Toten und Schwerverletzten. Warum war er nicht hinausgegangen, als das noch möglich gewesen war? Verdammt! Der Schweià brach ihm aus allen Poren, er schnappte nach Luft. Wo war Pia? Wo waren seine Eltern? Der Kopf eines Mannes knallte gegen sein Kinn, Bodenstein stemmte sich gegen die Menschen, verlor für einen winzigen Augenblick den Halt und glitt aus. Unbarmherzig drückten ihn fremde Körper zu Boden. Wo vorher noch Köpfe gewesen waren, sah er plötzlich nur noch Kleider, Arme, nackte Haut, Gürtel, dann Beine und Schuhe. Sie traten ihm in die Rippen und ins Gesicht, doch er spürte keinen Schmerz, nur Angst, Todesangst, die jedes andere Gefühl in seinem Innern ausschaltete und ihm eine ungeahnte Kraft verlieh. Er wollte nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt und sicher nicht auf dem schmutzigen FuÃboden der Dattenbachhalle.
Auf allen vieren kroch Bodenstein zwischen den FüÃen und Beinen in die Richtung, in der er die Tür vermutete, und plötzlich konnte er wieder atmen. Gierig sog er die frische Luft in seine Lungen. Nur weg hier, raus!
Plötzlich hielt ihn jemand am Arm fest.
»Herr von Bodenstein!« Eine Frauenstimme, die er nicht kannte, drang wie durch Nebel in sein Bewusstsein. Er hob verwirrt den Kopf und blickte in besorgte grüne Augen. Die Frau kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. Woher kannte sie seinen Namen?
Mühsam kam er auf die Beine, er zitterte wie Espenlaub und musste sich auf die zierliche, blonde Frau stützen, um nicht zusammenzuklappen. Sie lieà seinen Arm nicht los, dirigierte ihn zielstrebig durch das Chaos Richtung Ausgang.
»Wo ⦠wo sind meine Kollegen?«
»Sicherlich drauÃen«, antwortete die Frau. »Sie müssen tief durchatmen.«
Bodenstein gehorchte. Pia! Wo war Pia? Er erinnerte sich, dass sie auf den Bürgermeister zugelaufen war, danach hatte er sie aus den Augen verloren. Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Es kam ihm vor, als seien es Stunden gewesen. Menschen saÃen oder lagen auf dem Boden, andere taumelten vorbei, hysterisch schluchzend oder schweigend und mit schockstarrem Gesicht. Uniformierte Polizisten liefen durch das Foyer, Sanitäter und Notärzte, vor der Halle zuckten Blaulichter.
»Meine Eltern sind noch da drin.« Bodenstein blieb stehen. »Ich muss zu ihnen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war erst fünf nach neun, die Katastrophe hatte nur Sekunden, höchstens Minuten gedauert. Er kehrte um, betrat den Saal und erstarrte. Seinen Augen bot sich ein Bild der Verwüstung. Zerbrochene Stühle, Kleidungsstücke und einzelne Schuhe lagen herum, direkt neben der Tür bemühte sich ein Notarzt um eine Frau, ein paar Meter weiter lagen zwei weitere Frauen und ein Mann, dem die Menge in ihrer Panik die Kleider regelrecht vom Leib gerissen hatte. Bodenstein stieg vorsichtig über ihn hinweg. Er hatte sich wieder einigermaÃen unter Kontrolle, das Zittern lieà allmählich nach. Zwischen umgefallenen Stühlen erblickte er den gekrümmten Körper einer Frau. Sie trug Jeans und eine Bluse, die einmal weià gewesen sein musste, blondes Haar verdeckte ihr Gesicht. Sein Herzschlag setzte für ein paar Sekunden aus.
»O nein, Pia!«, stieà er hervor und sackte neben der Frau in die Knie.
*
Die Polizei hatte die Haustür versiegelt, aber das störte sie nicht. Sie kannte einen anderen Weg ins Haus, der zwar etwas unbequemer, aber dafür unentdeckt geblieben war.
Frauke hatte es ihren geldgierigen Brüdern nicht vergessen, dass sie sie bei der Sache mit der WindPro auÃen vor lassen wollten, um sich die drei Millionen zu teilen, genauso wenig vergessen waren die Demütigungen und der Spott, den sie von Gregor und Matthias immer hatte ertragen müssen. Nie
Weitere Kostenlose Bücher