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Wer Wind sät

Wer Wind sät

Titel: Wer Wind sät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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so hatte er doch noch nie zuvor wirklich um sein Leben fürchten müssen. Trotz zahlreicher Schulungen zum Verhalten in Stress- und Krisensituationen hatte er vorhin vollkommen die Kontrolle über seinen Verstand verloren, und der stärkste und rohste Instinkt, den die Menschheit der Evolution verdankte, hatte von ihm Besitz ergriffen: Überleben! Koste es, was es wolle.
    Â»Oliver!«
    Die Stimme seiner Mutter ließ ihn herumfahren. Sie war blass, wirkte aber beherrscht. Erleichtert schloss Bodenstein sie fest in die Arme. Seine Eltern hatten im vorderen Drittel des Saales gesessen und sich klugerweise nicht von ihren Plätzen gerührt, als die Panik losgebrochen war. Erst dann fiel ihm auf, dass sein Vater nicht bei ihr war.
    Â»Wo ist Vater?«, fragte er.
    Â»Er wollte nach den anderen schauen«, erwiderte sie und warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, den er übersah.
    Â»Ich rufe Quentin an, damit er euch abholt.«
    Â»Lass nur.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wir kommen schon zurecht. Mach du deine Arbeit.«
    Â»Nein, warte hier. Das musst du dir nicht angucken«, erwiderte er.
    Â»Ich habe schon ganz andere Sachen gesehen«, widersprach sie entschlossen. »Vielleicht kann ich helfen.«
    Bodenstein hob die Schultern. Er wusste, dass es sinnlos war, mit ihr zu streiten. Außerdem hatte sie bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit im Hospiz einiges an Elend erlebt. Seine Mutter war eine starke Frau, sie würde schon wissen, was sie tat. Er selbst verspürte nicht das geringste Bedürfnis, ihr ins Foyer zu folgen.
    Als er durch den Notausgang ins Freie trat, schloss er kurz die Augen und holte tief Luft. Eine angenehme Brise kühlte seine fiebrig heiße Haut. Auch hier standen Menschen und unterhielten sich gedämpft. Eine Frau rauchte lethargisch eine Zigarette, ihr Gesicht war tränenverschmiert. Bodenstein ging ziellos an ihnen vorbei. Nur nicht herumstehen und nachdenken. Vor der Halle musste der Teufel los sein, Blaulichter erhellten die hereinbrechende Dunkelheit wie Wetterleuchten. Erst da bemerkte er wieder die Frau, die ihm wohl gefolgt war.
    Â»War das in der Halle Ihre Kollegin?«, fragte sie.
    Â»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Zum Glück nicht.«
    Sie sahen sich an. Bodenstein gewahrte ein blasses, feingeschnittenes Gesicht, eher apart als schön. Das helle Haar hatte sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und umfloss ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Ein bisschen erinnerte sie ihn an Inka Hansen. Und dann fiel ihm wieder ein, woher er sie kannte. Sie war auf dem Hofgut gewesen und dann von seinem Vater im Auto nach Hause gebracht worden. Er hatte sich darüber gewundert, aber dann hatte seine Mutter ihm erklärt, die Frau sei eine Bekannte.
    Â»Haben wir uns nicht neulich bei uns auf dem Hof gesehen?«, fragte er. »Sie heißen Nicole, nicht wahr?«
    Â»Nika.« Sie lächelte fein, ihre Zähne blitzten hell in der Dunkelheit. Dann wurde sie wieder ernst.
    Â»Kommen Sie«, sagte sie nun. »Setzen Sie sich erst mal hin.«
    Er ließ sich zu einem Blumenkübel führen und setzte sich gehorsam auf den Rand. Sie nahm neben ihm Platz.
    Einen Moment schwiegen sie und blickten vor sich auf den Boden. Ihre Nähe irritierte ihn ein wenig, gleichzeitig tat sie ihm gut. Er spürte, wie die Wärme ihres Körpers und ihre bewundernswerte Ruhe seinen inneren Aufruhr besänftigten.
    Â»Danke für Ihre Hilfe«, sagte er schließlich mit spröder Stimme. »Das war sehr freundlich von Ihnen.«
    Â»Keine Ursache.«
    Als sie sich ihm plötzlich zuwandte und ihn prüfend ansah, wurde ihm heiß.
    Â»Ich muss nach den anderen sehen«, sagte sie leise. »Sind Sie okay?«
    Â»Ja, es geht wieder.« Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie entzog sich seiner Berührung, indem sie aufstand.
    Â»Wir sehen uns.«
    Bodenstein blickte ihr nach, im nächsten Augenblick war sie im Scheinwerferlicht verschwunden, als habe sie sich in Luft aufgelöst.
    Da trat Pia aus der Tür des Notausgangs und blickte sich suchend um. Als sie ihn erkannte, kam sie mit raschen Schritten auf ihn zu. Ihre weiße Bluse war übersät mit dunklen Flecken, ebenso ihre Jeans. Bodenstein stand auf und musste sich beherrschen, um sie nicht im Überschwang seiner Erleichterung zu umarmen, so froh war er, sie heil und gesund zu sehen. Sie schaute ihn kritisch an und legte den Kopf

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