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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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kritzelt eine Wolke, aus der es regnet. Diese blöden Filmkritiken sind überhaupt nicht das, was sie machen will. Libs will Gedichte schreiben, Hörspiele, vielleicht einen Roman. Libs ist sechsundzwanzig. Wie ist es möglich, dass man mit sechsundzwanzig immer noch nicht mit seinem wirklichen Leben begonnen hat? Wo ist Harro?
    Er kommt jetzt immer erst spät nach Hause. Er hat sein abgebrochenes Studium wieder aufgenommen: Er besucht die neugegründete Auslandswissenschaftliche Fakultät der Universität, die als zentrale Institution der NS-Außenpolitik geplant ist. Wer dort studiert, soll danach direkt an höhere Staatsstellen weitergegeben werden. Das gefällt Harro. Und mindestens wird ein ordentlicher Universitätsabschluss die Voraussetzungen schaffen, die nötig sind, damit man ihn endlich zum Regierungsrat befördert. Libertas dreht das Weinglas, das vor ihr steht.
    Es ist einer der grünlich schimmernden Weinkelche aus den Liebenberger Beständen, die ihnen Onkel Büdi zur Hochzeit geschenkt hat. Der Kelch ist wunderschön, anheimelnd, auchwenn er jetzt nur Wasser enthält. Der Schreibtisch ist ebenfalls aus Liebenberg. Libs würde am liebsten nach Liebenberg fahren. Aber ihre Schwester Ottora darf nicht nach Hause, und solange dieses Verbot besteht, ist Liebenberg auch für Libertas tabu. Es ist ja alles außerordentlich empörend.
    Ottora lebt in Oslo. Die Deutschen haben Norwegen angegriffen. Sie haben Oslo bombardiert, und nun kann Ottora nicht vor Görings Bomben nach Liebenberg fliehen, weil Göring von Onkel Büdi verlangt hat, Ottoras Mann das Haus zu verbieten. Angeblich hat sich Carl Douglas zu deutschlandfeindlichen Bemerkungen hinreißen lassen. Libs hört den Schlüssel im Schloss. Dann geht die Tür. Harro kommt herein, mit einem Schwall eiskalter Luft.
    »Libs? Libs! Ah, da bist du ja. Ach du arme Verfrorene, was ist dir? Ja, das ist gut, dass du den dicken Pullover geholt hast.«
    Er geht ins Schlafzimmer. Er spricht durch die offene Schlafzimmertür weiter mit ihr, während er die Uniform auszieht.
    »Ich habe noch ein bisschen mit Six im Niquet-Keller zusammengesessen. Mit dem Dekan der Fakultät. Ich habe dir ja von ihm erzählt.«
    Die Atmosphäre der Wohnung hat sich verändert. Die tote Luft prickelt, perlt wie von Kohlensäure durchspült.
    »Franz Alfred Six. Ein angenehmer Mann, ruhig und sachlich. Habe ich dir gesagt, dass er im selben Jahr geboren ist wie ich? Ich habe das Gefühl, dass er mir wohlwill. Natürlich ist er ein Ideologe. Aber er holt historisch sehr weit aus, um heutige Reichsansprüche zu begründen, bis zum mittelalterlichen Reich unter Heinrich I., den ottonischen Kaisern und Friedrich II. Da lernt man durchaus noch etwas dazu. Wir haben im Jungdo damals ja auch die starke Verpflichtung betont, die das Mittelalter für Deutschland darstellt.«
    Sie hört ihn mit den Hosenbügeln klappern, mit den Schuhen.Sie kann vor sich sehen, wie er die Jacke aufhängt, dicke Socken anzieht.
    »Albrecht Haushofer gehört auch zum Lehrkörper. Ich habe ihn daran erinnert, dass er einmal bei uns aus seinen Werken vorgelesen hat. Es ist ja recht ordentlich von Six, dass er Haushofer geholt hat. Er hat immer wieder Ärger wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter.«
    Harro kommt aus dem Schlafzimmer. Er knöpft im Gehen das Hemd zu, zieht den Pullover über den Kopf. Libertas wickelt sich aus ihrer Decke. Sie geht ihm voraus in die Küche.
    »Hast du schon gegessen?«, sagt Libs. »Wenn nicht, kann ich dir etwas machen. Ich habe allerdings keine Milch mehr bekommen.«
    Harro schätzt abends sanfte Speisen, gekochte Haferflocken oder Grießbrei. Vielleicht kann Libs im Sommer Himbeersaft einmachen. Es gibt so viele Himbeeren in Liebenberg. Libs wünschte, es gäbe jetzt welche. Sie wünschte, sie hätte eine Handvoll Himbeeren, sonnenwarm, die sie mit Harro teilen könnte.
    »Es geht auch ohne Milch«, sagt Harro. »Ich denke, ich habe noch Ovomaltine von meiner Mutter.«
    Libs entzündet die Gasflamme, nimmt einen Topf aus dem Schrank. Sie überlegt, ob sie auch etwas essen möchte. Sie hat durchaus Hunger, aber sie hat keinen Appetit.
    »Ich würde dich ja zum Essen ausführen«, sagt Harro. »Aber ich möchte keinesfalls Radio Moskau verpassen. Ich mache mir wirklich Sorgen wegen des Finnlandfeldzugs. Das darf so nicht bleiben. Das ist ja blamabel, wie sich das hinzieht, ich verstehe es gar nicht. Ich verstehe nicht, warum die Russen nicht längst gesiegt haben. Sie müssen

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