Wer wir sind
nicht mit uns abgesprochen«, sagt Hans. »Jetzt sind wir wahrhaftig Verräter. Landesverräter. Hochverrat mag einem ja geradezu als Pflicht erscheinen. Aber Landesverrat?«
»Hans«, sagt Christel. »Die Niederlande zu überfallen ist doch ein furchtbares Unrecht. Wie kann es da Unrecht sein, die Überfallenen zu warnen? Ein Unrecht wird doch nicht zu Recht, nur weil es dem eigenen Land Nutzen bringen soll.«
»Kann ein Unrecht dem Land überhaupt nützen?«, sagt Hans. »Die Moral sagt Nein. Aber Politik beruht doch auf genau dieser Annahme. Eine Regierung hat die Pflicht, das Wohlergehen der eigenen Bürger zuerst zu sichern, ihre Interessen gegen die aller anderen zu vertreten. Recht ist also, was meinem Land nützt, auch auf Kosten der anderen.«
»Dem kann ich natürlich nicht zustimmen«, sagt Dietrich. »Dauerhaften Nutzen kann ein Land niemals auf Kosten seiner Nachbarn haben.«
Hans ist aufgestanden und geht im Zimmer umher. Er geht fünf Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere.
»Wenn man nur wüsste, was richtig und falsch ist«, sagt er. »Wenn man wüsste, wann ein Verrat gerechtfertigt ist. Der Maßstab sollte die Stimme des Gewissens sein, das ist klar. Aber folgen dieser Stimme nicht auch die Nazis? Würde nicht jeder von ihnen ebenso behaupten, in seiner Treue zum Führer und seiner Pflichterfüllung ein reines Gewissen zu haben?«
Dietrich kneift die Augen zusammen.
»Mag sein, dass sie das behaupten würden«, sagt er. »Aber sie haben ja gar kein Gewissen. Sie haben es durch den Gehorsam ersetzt. Sie handeln nicht aus freier Verantwortung.«
»Freie Verantwortung«, sagt Hans. »Das ist es. Es ist im Grunde die Verantwortung, die mich belastet. Was, wenn auch nur ein einziger deutscher Soldat wegen dieses Verrats fällt? Klebt dann nicht Blut an unseren Händen? Müssen wir nicht die Verantwortung für jeden Toten übernehmen, der ohne unsere Tat nicht umgekommen wäre?«
»Aber Hans«, sagt Christel. »Ihr wollt den Krieg doch abkürzen. Ihr wollt ihn verhindern. Ihr wollt Menschenleben retten.«
»Ja. Aber welche Leben? Wenn ein Einziger stirbt, der sonst vielleicht überlebt hätte, kann ich mich dann damit herausreden, dass mein Verrat tausend andere gerettet hat? Rechtfertigen die tausend den einen? Machen sie mich an dem einen unschuldig?«
»Nein«, sagt Dietrich. »Natürlich nicht. Das wäre wirklich ein schlimmer Fehlschluss. Wir tragen für jeden unserer Eingriffe die Schuld. Aber wenn wir aus Angst vor persönlicher Schuld gar nicht handeln, stellen wir unsere Unschuld höher als die Verantwortung für die anderen. Dann laden wir noch heillosere Schuld auf uns.«
»Aber auch so könnte ein Nazi sprechen«, sagt Hans. »Ein Attentäter könnte so sprechen. Ein Verblendeter, der zumBesten der Welt mit einer Bombe in einen Kindergarten marschiert.«
Sie schweigen einen langen Moment. Christel beugt sich vor. Sie nimmt die Hände ihres Mannes in die ihren.
»Hans«, sagt sie. »Wie kannst du nur glauben, etwas Falsches zu tun? Wenn diese schlimme Zeit vorbei ist, wird jeder sagen, dass du richtig gehandelt hast. Jeder wird erkennen, dass ihr gegen das Böse gekämpft habt. Man wird euch nicht verurteilen. Man wird euch als Helden feiern.«
»Das ist nicht gewiss«, sagt Dietrich. »Aber darum darf es auch nicht gehen. Uns muss es um unser Gewissen gehen. Wer seinem Gewissen nicht folgt, endet in innerlicher Zerrissenheit. Das Gewissen ist aber der Ruf zur Einheit eines Menschen mit sich selbst. Seinem Gewissen nicht zu folgen geht also in Richtung des Selbstmords.«
Hans nickt langsam.
»Ich hoffe nur, es ist nicht alles umsonst«, sagt er. »Ich hoffe, man riskiert seinen Kopf nicht umsonst, und die Niederländer und die Belgier nutzen die Warnung und bereiten sich vor.«
Und wieder überwältigt Christel die Erkenntnis: Hans glaubt nicht an den Erfolg der Sache, für die er sich einsetzt. Er rechnet mit dem Krieg gegen den Westen.
»Auch das müssen wir nicht bedenken«, sagt Dietrich. »Wir sind freie Menschen, denn wir glauben an Gott. Das heißt, wir wissen, dass wir nur für unsere Handlungen verantwortlich sind. Der Ausgang unserer Sache liegt nicht bei uns, nur unser Bemühen.«
»Tötet ihn!«
Christel erschrickt vor sich selbst.
»Tötet Hitler, erschießt ihn.«
Hans nickt. Er sitzt zusammengesunken, mit abgewandtem Gesicht.
»Ja. Es läuft natürlich darauf hinaus. Und nicht nur ihn wird man umbringen müssen, sondern die gesamte
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