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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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am Gendarmenmarkt muss man wie überall Marken abgeben, bevor man sein Mittagessen bestellen darf. Aber Mildred und Arvid essen zu Mittag, so wie alle anderen auch. Arvid geht ins Ministerium. Mildred unterrichtet.
    Sie hält neuerdings auch Kurse an der gerade gegründeten Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität, wo die künftige diplomatische Elite des Reichs herangezogen werden soll. Die Leute planen ja weiterhin Schul- und Studienabschlüsse. Wer noch nicht eingezogen ist, tut so, als ob eine Chance bestünde, in Ruhe seinen Weg weiterzugehen, es ist alles ein einziges So-tun-als-ob.
    Das ist wieder so ein deutscher Ausdruck. Ein Ausdruck wie aus einem Kinderspiel, harmlos, charmant: Komm, wir tun, als ob wir Gauner wären, Prinz und Prinzessin, Engel im Himmel. Und wenn man lange genug so tut als ob, glaubt man sich die Rolle, die man spielt. Mildred hat eine Weile nachdenken müssen, bis ihr der entsprechende englische Begriff eingefallen ist,
    to pretend
    Aber das ist nicht dasselbe. Dem englischen Wort wohnt ein Moment des Bösartigen inne, etwas von arglistiger Täuschung. Der pretender spielt nicht mit der Wirklichkeit. Er verneint ihre Berechtigung. Er spielt nicht für sich, sondern gegen die anderen, deren Wahrnehmung er zu täuschen gedenkt. Er ist ein Heuchler, in weniger schlimmem Fall ein Angeber und bestenfalls einer, der Ansprüche auf den Thron erhebt, die erst noch zu überprüfen wären. Und ist es das, was sie und Arvid tun?
    Erheben sie Ansprüche?
    Erheben sie Anspruch auf die Zukunft, auf ein Leben danach, ein Leben auf der anderen Seite dieses Berges, den es zu erklimmen gilt?
    »Wir müssen die Leute auf Linie halten«, sagt Arvid. »Das ist entscheidend. Wir müssen ihnen helfen, nicht an allem irrezuwerden. Wir müssen die Aufrechten motivieren, ihnen die Mittel in die Hand geben, die sie brauchen, um sich gegen die Nazipropaganda wappnen zu können, bis wir alle über den Berg sind.«
    The bear went over the mountain, the bear went over the
    mountain,
    the bear went over the mountain, to see what he could see.
    Und dann? Was werden sie vorfinden, wenn sie auf dem Gipfel stehen?
    The other side of the mountain, the other side of the mountain –
    Aber so darf sie nicht denken. Sie muss sich an das halten, was sie hat: an das Leben von Moment zu Moment, an das So-tun-als-ob. Die Bäume stehen schwarz vor dem großen Weiß. Darüber leuchtet ein winterlicher Himmel, der sie an zu Hause erinnert, an die herben Winter des Mittleren Westens. Arvid hält an.
    Er späht durch die Bäume, den Weg hinunter: Und da kommen sie. Da kommt Heath. Da kommt Louise, mit Donny junior, den Mildred neuerdings in amerikanischer Literatur unterrichtet.
    »Juhu!«
    Mildred winkt. Louise hebt ihren Skistock und winkt zurück. Dies sind Freunde. Sie sprechen amerikanisch. Es wird ein schöner Nachmittag werden.
    Libs sitzt an ihrem kleinen Damenschreibtisch, hinten in einer Ecke des Wohnzimmers. Sie sind wieder umgezogen: Sie wohnen nun in der Altenburger Allee 19. Libs hat einen dicken Pullover von Harro angezogen und sich eine Decke über die Beine gelegt. Sie fröstelt dennoch. Es ist Anfang April 1940 und immer noch kalt, und es gibt keine Kohlen. Libs gähnt.
    Sie betrachtet das Blatt, das vor ihr liegt. Sie hat ein paar Blumen darauf gemalt, einen Baum. Eigentlich müsste sie arbeiten. Die Besprechung des Maria-Stuart-Films für die ›Essener Zeitung‹ ist bereits fertig. Aber die Kritik über den österreichischen Musikfilm hat sie gerade erst angefangen,
    Es wird a Wein sein
    Und mir wer’n nimmer sein
    Libs hat keine Lust. Manchmal hat sie keine Lust. Manchmal möchte sie von allem entbunden werden. Und dann wieder kann es ihr nicht genug sein, und sie schnappt glücklich nach Luft unter der Flut der Einfälle, der Lawine der Aufgaben,die sie sich auflädt. Es ist, als gäbe es einen Schalter, dessen Stellung bestimmt, wie Libs ihr Leben lebt, den sie aber selbst nicht betätigen kann.
    Im Moment steht der Schalter auf aus. Libs betrachtet den Stiftehalter aus Walnussholz in Gestalt eines Nachens, der auf dem Schreibtisch steht. Sie wählt einen roten Stift. Sie kritzelt ein Mädchengesicht,
    ’s wird schöne Madln geben
    Und mir wer’n nimmer leben
    Sie muss diese Kritik fertig machen. Der Film war dumm und banal. Sie wird schreiben, dass der Film dumm und banal war. Sie möchte nicht einmal das schreiben. Der Film ist ihr egal. Es ist ihr egal, was sie schreiben wird, Libs

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