Wer wir sind
Parteispitze. Die Frage ist, ob wir das Recht dazu haben. Das Recht auf Mord. Dietrich, was mich quält, ist nicht so sehr das Fünfte Gebot. Es ist der Spruch im Matthäus-Evangelium. Wer das Schwert zieht, der möge durch das Schwert umkommen. «
»Du fragst dich, ob der Spruch auch für die Mörder Hitlers gelten würde?«
»Ja.«
Dietrich sieht seinen Schwager an.
»Sie wären davon natürlich nicht ausgenommen«, sagt er. »Sie hätten aber die Möglichkeit, die Geltung dieses Gerichtsworts bewusst auf sich zu nehmen.«
Der Landwehrkanal ist zugefroren. Der Himmel ist überhaucht vom Kupferdunst der Kälte. Die Stadt duckt sich ins Grau, während sie den Angriff des Westens erwartet. Mildred und Arvid fahren im Grunewald Ski. Ihr Atem raucht in der klaren Januarluft 1940. Sie sind mit Freunden verabredet: mit dem Ersten Sekretär der amerikanischen Botschaft Donald Heath und seiner Frau Louise. Die Harnacks sind sehr glücklich über diese Freundschaft.
Die Einsamkeit ist ein schreckliches Leiden. Mildred tippt deshalb Manuskripte über die Arbeiterbewegung in anderen Ländern ab, sie übersetzt Reden Roosevelts, englische und amerikanische Zeitungsartikel. Dieses Material kann an Freunde weitergegeben werden, an Arvids Debattier- und Schulungszirkel, an ausgewählte Leute in Fabriken und Ministerien, wo es wie ein Lichtsignal wirkt, wie ein warmer Händedruck: Wir sind nicht allein. Es sind dort draußen noch immer welche von uns. Das Netz hält, es trägt.
Es wird weitergeknüpft: Mildred und Louise Heath begegneneinander regelmäßig im American Women’s Club. Donald und Arvid treffen sich regelmäßig zum Mittagessen: Es ist Teil von Arvids Aufgaben, sich mit amerikanischen Kollegen und Fachleuten zu besprechen. Arvid ist jetzt Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium. Er erfährt viele Dinge, die anderen verschlossen bleiben: Interna über die Reichsbank, die Arbeitsweise des deutschen Finanzministeriums, er steht in engem Kontakt mit der Wirtschaftsabteilung des Auswärtigen Amtes. Donald Heath ist sehr interessiert an wirtschaftspolitischen Informationen. Es interessiert ihn brennend, wie Arvid die deutschen Kriegspläne unter wirtschaftlichen Erwägungen einschätzt.
»Also, Donald. Ich denke, zuerst werden wir Dänemark einnehmen, als Sprungbrett sozusagen. Und dann werden wir Norwegen besetzen. Durch die Erzbahn von Schweden nach Narvik ist Norwegen von außerordentlichem wirtschaftlichen und militärischen Wert für uns. Seit dem Verlust der französischen Eisenerzeinfuhr erhalten wir ja vierzig Prozent des Eisenerzbedarfs über Schweden, und die Briten wollen uns diese Rohstofflieferungen abschneiden.«
Mildred hat natürlich auch ihre Nichte Jane Donner in den American Women’s Club eingeführt. Otto Donner arbeitet in der militärischen Forschung. Arvid hat ihn Heath vorgestellt, der erfreut war, die Bekanntschaft zu machen. Und ist dies Verrat? Arvid schüttelt den Kopf.
»Der Weltkrieg kommt, Mildred. Hitler wird ihn verlieren. Und danach muss jemand da sein, dem die Sieger vertrauen, mit dem sie verhandeln können. Jemand, der die ganze Zeit auf ihrer Seite stand. Nur so kann Deutschlands Unabhängigkeit erhalten bleiben. Nur so können wir verhindern, dass Deutschland als Land aufhört zu existieren. Deutschland muss die geistige und wirtschaftliche Mittlerrolle zwischen Westund Ost übernehmen, die seine Aufgabe ist. Darum geht es. Wenn das Verrat an Deutschland ist, bin ich allerdings ein Verräter.«
Aber das ist Arvid nicht. Er unterhält sich doch nur mit einem Landsmann seiner Frau. Es geht im Grunde auch gar nicht um die Weitergabe von Zahlungsbilanzen oder Fakten über den Außenhandel. Es geht darum, die Türen nicht zufallen zu lassen: So sieht es Mildred.
Es geht darum, in Fühlung zu bleiben, im Austausch. Arvid und Mildred versorgen ihre isolierten deutschen Freunde mit verbotenen Informationen aus dem Ausland, und sie versorgen ihre amerikanischen Freunde mit verbotenen Informationen aus Deutschland.
Es ist Sonntag, früher Nachmittag.
Mildred hört das leise schabende Geräusch der Skier. Sie hört Arvids Atem, wenn sie eine kleine Steigung erklimmen. Manchmal knackt ein Ast, unter dem Gewicht des Schnees. Mildred ist froh, dass sie jetzt hier sind. Sie ist froh um jede Stunde, die sie der Stadt entfliehen kann. Deutschland ist im Krieg. Das normale Leben geht aber weiter. Nahrungsmittel sind rationiert, aber man kauft weiterhin ein. Bei Lutter & Wegener
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