Wer wir sind
Tarnow, Dölzig, Warnitz. Schlabrendorff lehnt sich zurück. Er hat die Aufgabe gelöst. Er kann Eta entgegentreten. Er wird ihr nichts von dem Selbstmord sagen: Er wird die Fiktion so lange wie möglich aufrechterhalten, dass Henning von Tresckows Tod in keinem Zusammenhang mit dem Attentat steht.
Aber er wird auch Hennings wahres Vermächtnis wahren. Er hat übernommen, was Henning versäumt hat: Hennings Tat zu begründen, klar und für immer zu formulieren, worum es gegangen ist. Schlabrendorff hat das für Henning getan. Er hat alles aufgeschrieben. Hennings letzte Worte stehen nun in Fabian von Schlabrendorffs kleinem Notizbuch.
Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, dass wir recht gehandelt haben. Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und mein Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.
Schlabrendorff starrt nach draußen. Über einer Wiese schwebt ein Raubvogel. Schlabrendorff überlegt, wann man herausfinden wird, was Henning getan hat. Er überlegt, wann man Fabian von Schlabrendorff abholen wird, Hennings Ordonnanzoffizier und angeheirateten Verwandten. Tränen drängen in seine Augen, mit Macht.
Er hat bis jetzt nicht das Bedürfnis gehabt zu weinen. Aber jetzt muss er die Fäuste ballen, die Zehen in den Stiefeln zusammenkrümmen. Ein Quietschen sitzt ihm in der Kehle wie das einer zertretenen Maus. Er beißt sich auf das Innere der Wangen. Er kneift die Augen zusammen, wischt mit den Handballen über sein Gesicht, dann holt er noch einmal das kleine Notizbuch aus der Tasche. Er vervollständigt Tresckows letzte Worte.
Niemand von uns kann über seinen Tod Klage führen. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessushemd angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.
Barbara Haeften ist bei Franz Alfred Six gewesen, Hannes’ Vorgesetztem. Six hat sie äußerst freundlich empfangen.
»Wie gut, dass Sie kommen, Frau von Haeften. Ihr Mann hatte mich ja Freitag nach dem Verbleib seines Bruder gefragt. Das ist jetzt geklärt. Ihr Schwager ist in der Bendlerstraße von der Wehrmacht erschossen worden. Nicht von der SS, wie gesagt. Nicht von uns, sondern von der Wehrmacht.«
»Und wo ist mein Mann jetzt?«
»Nun. Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.«
Danach ist Barbara in die Prinz-Albrecht-Straße gegangen, wo man sie zur Meinekestraße 10 weitergeschickt hat.
Sie steht vor den schweren Gittertüren. Das Päckchen fürHannes hat sie unter dem Arm: Wäsche, Obst, Butterbrote. Sie hofft sehr, dass sie es abgeben kann. Sie klingelt. Der Pförtner öffnet die schweren Gitter. Barbara tritt ein. Die Gitter schließen sich hinter ihr. Barbara geht eine Treppe hinauf, dann passiert sie eine weitere Gittertür, die sich hinter ihr schließt.
»Wo wollen Sie denn hin?«
Ein SS-Mann.
»Ich möchte mich nach dem Verbleib meines Mannes erkundigen. Hans Bernd von Haeften.«
»Bitte folgen Sie mir.«
Sie gehen einen Gang entlang. Barbara sieht zu ihrer Rechten ein Zimmer, in dem eine Sekretärin sitzt. Zu ihrer Linken ist ein Fenster. Es ist alles vollkommen normal: nur dass Barbara allmählich das Gefühl beschleicht, einen großen Fehler gemacht zu haben. Sie hätte nicht herkommen dürfen. Sie sollte jetzt gehen. Sie sollte schleunigst das Weite suchen, solange noch Zeit ist. Ihr Begleiter verschwindet in einem der Büros. Momente später öffnet sich die Tür.
»Frau von Haeften? Bitte kommen Sie herein.«
Drinnen ein Mann in Zivil, mit dem Rücken zum Fenster. Eine knappe Verbeugung.
»Neuhaus. Bitte nehmen Sie Platz. Sie sind hier, weil Sie Ihren Mann suchen?«
»Ja. Ich wollte Sprecherlaubnis beantragen.«
Ein kurzes Lachen, trocken wie Hausstaub.
»Selbstverständlich vollkommen ausgeschlossen.«
»Kann ich dann vielleicht erfahren, wo er ist? Ich würde gern etwas für ihn abgeben.«
»Sie können überhaupt nichts erfahren.«
Die Tür öffnet sich hinter ihr. Ein weiterer Mann betritt
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