Wer wir sind
Angst um seine Familie. Er würde fürchten, dass die Gestapo an uns Rache nimmt. Aber er ist verschwunden. Die offiziellen Stellen wissen nichts. Vielleicht ist er untergetaucht. Vielleicht versteckt er sich bei jemandem. Würde er dann nicht Nachricht geben? Er ist nicht untergetaucht. Er ist im Ausland. Er hat sich über die Grenze gerettet. Vielleicht in die Schweiz. Wie ist er durch das ganze Reich gekommen? Vielleicht ist er in Schweden. Warum Schweden? Warum nicht Schweden. Es ist egal, solange er in Sicherheit ist.
Dann herrscht wieder Stille. Der Himmel wölbt sich über den Stoppelfeldern. Die Sommeräpfel am Feldrand reifen. Die Rufe der Kinder klingen hell. Das Pferdchen schnaubt.
Sie haben ihn nicht. Sie wissen nicht, wo er ist. Er wird vielleicht herkommen. Er ist vielleicht schon da. Er wird sich zu helfen wissen, wie könnte ich jemals an ihm zweifeln.
So geht es, so geht es, immer weiter, weiter.
Marion ist zurück. Sie ist wieder in Berlin. Sie hat Schlesien zurückgelassen, die weinende Schwiegermutter, die in Klein Oels zu Bett liegt, die nicht aufstehen kann oder nicht aufstehen will, jetzt, wo der dritte ihrer vier Söhne in tödlicher Gefahr ist. Marion hat die Pflege der Schwiegermutter Davy überlassen. Dann ist sie nach Kauern geflohen. Sie ist über den schweren schlesischen Boden der Zuckerrüben- und Weizenfelder gewandert, an der Sandgrube vorbei in Richtung Weigwitz, über die Brücken von Olbenbach und Ohle, vorbei an den beiden riesigen Friedenseichen von Kauern, an den Löschteichen, in denen die Dorfkinder in der nachmittäglichen Wärme planschten und schrien, sie ist an den Häuschen von Buchwald, Hunger, Fiebig und Weiß vorbeigegangen, am Haus August Karbsteins, der bis 1933 Kauerns Gemeindevorsteher war, sie ist den Weg nach Höckricht hinuntergegangen, wo einst die Kalckreuths wohnten, durch das Gelände, das noch immer der Ziergarten heißt, aber längst landwirtschaftliche Nutzfläche ist. Sie hat eine Nacht in ihrem Bett in Kauern geschlafen. Dann hat sie sich mit Lebensmitteln beladen, hat Kauern in der Obhut des Inspektors Lampel gelassen und ist zurück nach Berlin gefahren. Nun steht sie auf den Stufen vor dem kleinen Haus in der Hortensienstraße 50.
Es ist fünf Tage her, dass sie und Peter durch diese Tür nach draußen geschritten sind, um zur Hochzeit der Pücklers zufahren. Fünf Tage. Marion schließt ihre Haustür auf. Sie tritt in die kleine Diele. Sie ruft.
»Hallo?«
Mariechen eilt ihr entgegen. Sie fallen einander in die Arme.
Es ist jetzt Nacht. Voraus fährt der Pkw mit Generalmajor Henning von Tresckows Kraftfahrzeug-Stander. Es folgt der Lastwagen mit dem Sarg und den Begleitsoldaten. Das Oberkommando der 2. Armee hat von Henning Abschied genommen, nun wird Fabian von Schlabrendorff ihn nach Hause bringen. Fabian sitzt im Lkw neben dem Fahrer. Er hat den Kondukt westlich von Ostrów übernommen.
»Schlabrendorff, gehen Sie! Man wird Sie verhaften. Laufen Sie über, schlagen Sie sich zu den Russen durch!«
So Berndt von Kleist, der dem Kondukt vor etwa einer Stunde aus der Dunkelheit heraus plötzlich in den Weg getreten ist. Ebenden Ratschlag hat Schlabrendorff vor vier Tagen Henning gegeben. Schlabrendorff könnte nicht sagen, warum auch er ihm nicht folgt. Aber er erwägt nicht einmal, überzulaufen. Die Wucht des Geschehenen hat ihn erfasst, schleudert ihn in die Zukunft. Die Motoren brummen. Das blaue Licht der verdunkelten Scheinwerfer erhellt schwach den unmittelbaren Straßenverlauf. In der Ferne ist alles Finsternis. Immerhin hat die Hitze nachgelassen, jetzt in der Nacht. Sie sind ungefähr auf der Höhe von Zichenau. Der Fahrer neben Schlabrendorff raucht. Schlabrendorff schließt die Augen, öffnet sie wieder. Am Himmel Sterne, in einsamer Größe über der verdunkelten Erde. Hinten auf der Ladefläche der Sarg.
Der Morgen des 25. Juli dämmert. Barbara Haeften ist bereit. Um acht Uhr geht der Zug nach Berlin. Barbara hat den Kindern ihre Aufgaben aufgelistet, für das kleinste Babynahrungin der Küche bereitgestellt. Sie rechnet damit, zwei, drei, eventuell sogar vier Tage lang von Grammertin fortzusein. Hannes ist verhaftet worden.
Die Nacht ist vorüber. Landsberg an der Warthe liegt hinter ihnen. Der Morgen erglänzt über der Neumark. Sie fahren durch Pappelalleen, Birkenalleen, dann Kiefernwälder. Im morgendlichen Dunst fliegen Weißflügelseeschwalben über einem See auf. Die Dörfer beginnen vertraute Namen zu haben:
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