Wer wir sind
des Bruders stellen.
Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg steht vor SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner, General der Polizei und Leiter des Reichssicherheitshauptamts in der Prinz-Albrecht-Straße. Fritzi ist bisher nicht misshandelt worden. Es bestehtauch kein Anlass. Fritzi lügt ja nicht. Er streitet nichts ab. Er rechnet ab. Er charakterisiert das Regime. Er vernichtet es. Die Beamten wissen manchmal nicht, wo sie hinschauen sollen. Jeder der leisen, bestimmt vorgebrachten Sätze ist ein Peitschenschlag. Jeder Peitschenschlag trifft eine bereits offene Wunde, geht nieder auf die längst ausgerenkten Gelenke des Apparats: Der Krieg ist verloren. Das Regime ist am Ende. Es hat das Vertrauen des Volkes verspielt. Es hat die Grundlagen des Beamtentums zerstört. Es hat jede Rechtsbasis verlassen. Die Parteibonzen sind geldgierig, bestechlich, käuflich. Der Machttrieb ist zum Maßstab des Handelns geworden. Das Volk ist zur Masse atomisiert, die mit Gewalt und den Mitteln der Propaganda niedergehalten wird. Das Regime opfert die deutschen Soldaten hin, es unterdrückt die besetzten Gebiete, es beutet die Hilflosen und Schwachen aus, es hat die ganze Welt gegen Deutschland aufgebracht, das nun gehasst wird wie niemals ein Land der Erde zuvor.
»Und alle Züge der Entwicklung haben im Grunde eine Wurzel: Gewalt ohne Maß, innen und außen. Anfangs suchte ich noch nach Möglichkeiten, dies Übel im Weg der Reform zu heilen. Allmählich aber kam ich zu der Erkenntnis: Eine Reform hilft nicht mehr, da alles ineinander verkettet ist und in Grundtatsachen beruht, die mit dem Charakter des Systems unwandelbar verbunden sind.«
»Und also wollten Sie den Führer beseitigen.«
»Selbstverständlich. Den Führer, die Regierung, den Nationalsozialismus.«
»Gräfin von der Schulenburg? Bitte die Störung zu entschuldigen. Ich suche den Grafen.«
Charlotte ist nicht sicher, dass sie richtig gehört hat. Vor ihr in der Halle von Trebbow steht ein fremder Offizier.
»Ist der Graf hier? Ich muss Sie dringend bitten, die Wahrheit zu sagen. Der Graf steht unter dem Verdacht der Desertion.«
»Wovon reden Sie?«, sagt Charlotte. »Was meinen Sie?«
»Graf von der Schulenburg wird seit dem 20. Juli bei seinem Regiment vermisst.«
»Das Regiment vermisst ihn«, sagt Charlotte. »Das heißt, Sie wissen nicht, wo er ist.«
»So ist es.«
»Er ist verschwunden. Sie meinen, er ist verschwunden?«
»Er ist also nicht hier?«
»Nein. Mein Mann ist nicht hier. Und er ist auch nicht in Berlin?«
»Jedenfalls nicht bei seinem Regiment.«
»Das kann ich mir überhaupt nicht erklären«, sagt Charlotte.
Überschüttet den Boten mit Gold, Silber und Edelsteinen!
»Ich kann mir das wirklich nicht erklären«, sagt sie. Sie spricht sehr laut. Der Jubel in ihr ist ein Symphonieorchester, das alles andere übertönt.
»Clarusch.«
Clarita in Imshausen hört die Stimme ihres Mannes. Sie haben seit dem 20. Juli täglich telefoniert. Clarita geht auf einem Seil. Das Seil ist zwischen die Anrufe gespannt.
»Adam. Wie schön, dass du anrufst.«
»Ja, meine Clarusch. Ich wollte nur unbedingt deine Stimme hören.«
»Ach ja, Adam. Sag, geht es dir gut?«
»Ja, Claruschka. Es geht mir gut. Und das wollte ich dich eben wissen lassen. Dass es mir gut geht. Ich wollte, dass du meine Stimme hörst.«
»Ja, Adam.«
»Bald bin ich bei euch. Ich freue mich schon so.«
»Ja, Adam. Ach, wir freuen uns alle ganz schrecklich auf dich.«
»Grüße bitte meine Mutter recht herzlich. Küsse die süßen Kleinen. Ich melde mich wieder. Auf bald, meine Clarusch.«
»Auf bald, Liebster. Auf bald.«
Charlotte und die Kinder wandern über die Koppeln. Sie lesen Ähren, jeden Tag, alle Tage. Die Kinder schwärmen über die abgeräumten Sommeräcker, zwitschernd und pickend wie heitere Vögel. Charlotte zieht mit ihnen. Sie kann still sein, wenn die Kinder zwitschern. Sie kann Nachlese halten, aufsammeln, was übersehen wurde, retten und bewahren, was liegengeblieben und verlorengegangen ist. In manchen Momenten ist Charlotte ganz still. Es sind die wunderbaren Momente, wenn das um sich selbst kreiselnde Rad ausgetrudelt und zu Boden gesunken ist. Es dauert nie lange. Dann geht es wieder los.
Er ist entkommen. Er ist über die Grenze ins Ausland geflohen. Er hat sich gerettet, er ist in Sicherheit, wir werden hier überdauern, bis alles vorbei ist, dann sind wir wieder vereint, vielleicht ist er nicht geflohen. Er ist nicht geflohen. Er hätte
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