Wer wir sind
den Raum.
»Sie sind verhaftet, Frau von Haeften.«
Sie hört sich sprechen, als spräche ein anderer.
»Aber warum denn. Das ist doch gar nicht möglich. Ich habe Kinder. Was ist mit meinen Kindern? Ich habe einen Säugling.«
»Das Kind wird versorgt. Alle Ihre Kinder werden bestens versorgt, davon können Sie ausgehen. Was denken Sie denn von uns? Was denken Sie von der Verwaltung des Deutschen Reichs? Halten Sie uns für Unmenschen?«
Marion Yorck ist bei Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk gewesen, einem Verwandten von Ulrich Schwerin von Schwanenfeld und ehemaligen Roßlebener. Lutz ist seit 1932 deutscher Reichsfinanzminister. Er hat Marion aber auch nicht weiterhelfen können. Er weiß nicht, wohin man Peter gebracht haben könnte, und er hat sich glatt geweigert, Nachforschungen anzustellen. Er weiß ja nicht einmal, wo Ulrich Schwerin ist. Lutz war Marions letzte Hoffnung. Sie hat alle hochgestellten Männer aufgesucht, die ihr bekannt sind. Nun ist sie wieder in der Hortensienstraße. Sie kann sich aber nicht hinsetzen. Sie kann sich nicht ausruhen. Sie kann nicht stehen, nicht liegen, sie kann es im Haus nicht aushalten. Sie muss handeln. Handeln, handeln, handeln. Marion geht wieder los, sie weiß nicht wohin.
Adam hat angerufen. Es ist alles in Ordnung. Adam wird bald hier sein: Nur noch vier Tage. Er hat bereits eine Vorhut geschickt. Seine Berliner Haushälterin Emma ist heute in Imshausen angekommen. Clarita hat Emma in Bebra mit dem Pferdewagen abgeholt. Sie hat es nicht erwarten können, jemandem nahe zu sein, der heute Morgen noch Adam nahe war.
»Und es geht ihm gut? Es geht ihm wirklich gut?«
»Ja, natürlich. Ein wenig blass und überarbeitet war er, aber es geht ihm gut.«
Wenn die alte Frau nur nicht so schreien würde. Es ist ihre Schwerhörigkeit.
»Hat er mir denn etwas ausrichten lassen?«
»Nein. Nur Grüße. Na, es geht ihm gut, aber er wirkt ein bisschen einsam. Es waren ja sonst immer viele Besucher bei ihm. Aber in den letzten Tagen ist es ziemlich still geworden.«
Der Sarg ist in Wartenbergs Gartensaal aufgebahrt. Uta ist froh, dass er geschlossen ist. Sie will ihren toten Vater nicht ansehen. Sie ist im Garten und pflückt Blumen für ihn. Sie sind alle im Garten: Uta und ihre kleine Schwester Heidi, die Kinder von Tante Hedwig und Onkel Jürgen, die beiden Mädchen von Onkel Gerd. Sie alle pflücken Blumen für den Sarg. Die Mutter ist in Potsdam, um der Oma und natürlich Utas Bruder Mark zu sagen, dass der Vater tot ist. Sie kommt aber heute Abend noch zurück: Onkel Jürgen hat sie angerufen, um sie von Fabian von Schlabrendorffs Ankunft zu unterrichten. Tante Hedwig hat die Idee gehabt, dass die Kinder Blumen pflücken sollten.
Uta versteht, worum es geht. Sie sollen Blumen pflücken, damit sie nicht weinen. Damit sie weniger traurig sind. Es hilft auch. Uta pflückt. Sie hat schon einen Armvoll. Es reicht aber noch nicht. Der Vater soll viel mehr Blumen bekommen. Arme und Arme und Arme von Bechermalven und Flockenblumen, Rittersporn und Sommermargeriten, Goldlack und Marienglockenblumen soll er bekommen, so viele, als bräuchte man nach dem heutigen Tage keine mehr. Als wäre Henning von Tresckow der Letzte, der auf Wartenberg stirbt.Barbara von Haeften sitzt in einer Einzelzelle des Untersuchungsgefängnisses Moabit. Die Tür ist zu. Barbara weiß nicht, ob man ihre Familie von ihrer Verhaftung verständigen wird. Sie weiß nicht, ob man ihre Eltern behelligt. Sie weiß nicht, wo ihr Mann ist, was aus den Kindern wird, aus ihr selbst, das Nichtwissen ist laut. Es ist ein dröhnendes Rauschen, wie die See bei Sturm. Barbara wird in der Flut ertrinken. Man wird sie verhören, man wird sie vielleicht foltern. Und die draußen wissen nicht, wo sie ist. Barbara weint. Die Wanzen kommen gegen Abend. Barbara kann nicht länger hin und her gehen, sie kann aber auch nicht auf der Pritsche liegen. Wimmernd und stöhnend kauert sie sich in ihrer Zelle zusammen, auf dem Boden der Zelle. Dann schrillt der Alarm. Moabit wankt und zittert unter der Gewalt der Detonationen. Barbara schreit, sie trommelt gegen die Zellentür. Sie liegt an der Wand unter dem Fenster, die Jacke über den Kopf gezogen. Sie fleht.
Bitte bitte, lieber Gott, bitte
Dies also wird ihr Ende sein. Ihr Körper wird zerrissen werden, Gefängnistrümmer werden ihn begraben, und niemals mehr, niemals wird sie bei Hannes und den Kindern sein. Niemand wird von ihrem Ende wissen.
Charlotte und Tisa
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