Wer wir sind
liegen einander in den Armen. Sie weinen. Sie lachen. Heute Morgen war wieder ein Offizier da. Er hat es bestätigt: Von Fritzi fehlt jede Spur. Fritzi ist frei. Er muss frei sein. Er ist geflohen.
»Aber wer weiß, wo er ist«, sagt Tisa. »Vielleicht hält er sich in den Wäldern versteckt. Vielleicht ist er untergetaucht und versucht das Land zu verlassen. Vielleicht kommt er hierher. Vielleicht ist er ganz in der Nähe. Wir sollten irgendwo eine Kiste für ihn verstecken. Kleider, Streichhölzer. Etwas zu essen. Vielleicht kommt er ja in der Nacht und hat keine Zeit, biszum Morgen zu warten. Vielleicht muss er es vermeiden, hier von jemandem gesehen zu werden.«
»Ach, Tisa. Das ist aber sehr romantisch. Eine Kiste? Du meinst, wenn Fritzi käme, würde er uns nicht sehen wollen?«
Aber je länger sie darüber nachdenkt, desto plausibler erscheint es ihr. Und ohnehin möchte sie eine Kiste packen. Es ist tief beglückend, die Kiste für Fritzi zu füllen, Wäsche für Fritzi zusammenzufalten, ein Hemd glattzustreichen und in die Kiste zu betten, Brot und ein Stück Speck in Wachspapier zu wickeln.
»Warte«, sagt Tisa. »Mach die Kiste noch nicht zu.«
Sie geht in die Bibliothek. Sie greift ein Büchlein aus dem Regal, schlägt es auf. Hölderlin.
Du Land des hohen ernsteren Genius!
Du Land der Liebe! bin ich der deine schon,
Oft zürnt’ ich weinend, dass du immer
Blöde die eigene Seele leugnest
Tisa blättert nach vorn. Da ist es. Ein Ritter zu Pferde auf einem Berg, hinter ihm die aufgehende Sonne.
Leicht und entschieden
Es ist kaum fünf. Ein neuer Morgen zieht herauf. Das Gut Wartenberg erwacht allmählich, aber hier auf der Gartenseite des Schlosses ist es noch still. Eta steht auf der Veranda. Hinter ihr im Gartensaal steht Hennings Sarg. Es ist der Morgen der Beerdigung. Die Wiesen vor dem Herrenhaus sind silbrig vor Nässe. Auf dem See ziehen die Schwäne ihre Kreise. Eta wird tapfer sein, diszipliniert. Das ist sie ihm schuldig. Er ist gefallen. Dass das einmal geschehen könnte, lag immer im Bereich des Möglichen. Es ist diese Möglichkeit, die man von sich schiebt, wenn man einen Soldaten heiratet. Eta ist Henning Tapferkeit schuldig, und Aufmerksamkeit. Sie wird von nunan mit seinen Augen auf den See blicken. Sie wird für ihn auf die Schwäne blicken, auf die Meisen in den Heckenrosen, auf all das, was er nie mehr sehen wird. Eta steht und blickt über den See. Sie hört den Warnruf einer Amsel. Dann ertönt aus dem hohen Schilf ein einzelner Vogelruf. Er beginnt schnarrend, fast knurrend, steigt dann hell an. Eine Wasserralle.
Hennings Cousine Ruthchen Wedemeyer aus Pätzig ist in Begleitung ihres ältesten Sohnes Hans-Werner und ihrer Tochter Ruth-Alice von Bismarck zur Beerdigung gekommen. Ihre Tochter Maria ist nicht dabei: Sie ist in Berlin bei den Bonhoeffers geblieben. Aber Luitgarde von Schlabrendorff ist angereist, zusammen mit Fabians Schwiegereltern Maria und Herbert von Bismarck aus Lasbeck. Nach der Zeremonie gab es einen Imbiss im Schloss. Gegen Abend sind die Wagen über die Feldwege wieder nach Pätzig zurückgekehrt. Danach hat sich Eta auf ihr Zimmer zurückgezogen.
Sie hat noch einmal Hennings Brief gelesen, den Fabian ihr mitgebracht hat. Es ist kein Abschiedsbrief. »Aber Eta«, hat Fabian gesagt. »Wie kann es denn ein Abschiedsbrief sein? Wie soll er denn gewusst haben, dass er an der Front fällt?«
»Ich weiß nicht. Der Brief ist am Tag seines Todes geschrieben. Ist es nicht merkwürdig, Fabian? Dass er gerade am 21. gefallen ist, am Tag nach dem Attentat, und dass er mir vorher noch geschrieben hat?«
Barbara von Haeften hat überlebt. Die Bomben haben sie nicht getötet. Sie muss nun viel lernen. Sie muss lernen, dass sie morgens um sechs Uhr aufsteht und gleich danach mit der Wurzelbürste die Zelle putzt. Sie hat das nicht gewusst. Keiner hat es ihr gesagt. Aber um halb sieben fliegt die Zellentür auf.
»Zum Rapport in die Zellenmitte, Name, Zellennummer, Grund der Haft.«
»Barbara von Haeften.«
»Untersuchungsgefangene Haeften! So heißt das. Wie sieht denn die Zelle aus. Der Boden ist ja ganz trocken.«
So wird sie jetzt lernen. Auf diese Weise wird sie nun unterrichtet. Sie ist bereit, alles richtig zu machen, den Vorschriften unbedingt Folge zu leisten.
»Wasserkrug rausstellen.«
Barbara stellt den Wasserkrug hinaus. Sie betet. Sie kratzt die Wanzenstiche auf. Sie betet das Vaterunser. Sie betet es wieder und wieder und wieder. Das
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