Wer wir sind
Sie wird mit nickendem Kopf im Altersheim sitzen undvon damals erzählen, von alten Wunden und Wundern, die Sache ist die, dass der Vater ihr nie Gegenwart war.
Sie weiß von ihm nur, was man ihr erzählt hat. Sie kann sich nie fragen, was er heute tun würde, in dieser Welt. Was würde er heute von ihr erwarten? Sie weiß es nicht. Er hat in einer so ganz anderen Situation gedacht und gehandelt. Er hat sie ohne Handlungsanweisung zurückgelassen. Er war ihr nie Gegenwart, und zugleich war er ihr nie Vergangenheit. Er hat sie ja gar nicht gekannt. Sein Blick hat sie nie umfasst, seine kleine Tochter. Sie spürt das Fehlen dieses Blicks noch immer. Sie denkt manchmal, dass alles anders wäre, wenn es das gegeben hätte: dass sein Blick sie wenigstens einmal bemerkt, auf ihr geruht, sie liebend umfangen hätte.
Es gibt nur wenige Fotos von ihm. Auf einem davon hält er ihre Mutter im Arm, strahlend vor Glück. Der Vater ist darauf fünfundzwanzig. Er sieht ihr ähnlich. Er könnte ihr Bruder sein. Wenn sie ein Foto danebenlegt, das sie selbst im selben Alter zeigt, sind die Ähnlichkeiten ganz unverkennbar. Der Vater ist auf dem Foto nicht halb so alt, wie sie es heute ist. Er könnte ihr Sohn sein: der Sohn, den sie nicht hatte. Das ist das Erbe ihres Vaters. Das ist ihr Vater: die Zukunft, uneingelöst. Uneinlösbar.
Vom Dach des zerstörten Reichstags fliegt ein Schwarm Tauben auf.
Auf Kreisau blüht der Holunder.
Holunder treibt aus der verfallenden Schlossmauer, aus dem Geröll am Ufer des kleinen Flüsschens Peile, Holunder wächst am Berghaus, wo einst die Veranda stand. Holunder blüht lichtweiß am Berghügel, seine Blütendolden umschwärmt von Bienen. Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Sie geht niemals zu Ende, wie sollte sie denn? 1965 ist Willy Brandt Außenminister geworden. Im Oktober 1967 hat er Georg Ferdinand Duckwitz als Staatssekretär in den aktiven Dienst zurückgeholt, der Helmuth Moltke als Retter der dänischen Juden zuvorgekommen ist. Duckwitz ist ein erklärter Gegner der Hallstein-Doktrin, die die Anerkennung der DDR durch Drittstaaten zu verhindern sucht. 1970 wird er als Verhandlungsführer der Bundesrepublik am Abschluss des Warschauer Vertrags beteiligt sein. Am Tag der Unterzeichnung des Vertrags wird Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie fallen, in der Empfindung, dass an diesem Ort der aufrechte Gang allein nicht genügt. Die Welt wird ihn im Folgejahr mit dem Friedensnobelpreis ehren.
Und hat Willy Brandt bei seiner Rückkehr nach Deutschland ahnen können, mit wie viel Hass und Misstrauen man ihm in seinem Heimatland begegnen würde? Hat er sich vorstellen können, wie viel Gift und kleinliche Boshaftigkeit man über ihn, den Emigranten und Kosmopoliten, den vom Nationalsozialismus ganz Unbefleckten, zu Hause ausschütten würde?
Ich will versuchen dabei zu helfen, dass Deutschland nach Europa zurückgeführt wird. Es ist ziemlich sicher, dass ich Enttäuschungen erleben werde, vielleicht auch mehr als dies. Hoffentlich werde ich einer etwaigen Niederlage mit dem Gefühl begegnen, meine Pflicht getan zu haben.
Nach dem Abschluss des Warschauer Vertrags, nach Brandts berühmtem Kniefall ist es polnischen Historikern erstmals möglich, nicht nur ausschließlich den vom Bruderstaat DDR gefeierten Widerstand kommunistischer Gruppen in Deutschland zu untersuchen. Angeregt durch die erste polnische Biografie über Dietrich Bonhoeffer beginnt Karol Jonca, Rechtshistoriker und Professor der Breslauer Universität, sich mit demKreisauer Kreis zu beschäftigen. Und am 18. Mai 1976 besucht er Helmuth James von Moltkes jüngeren Sohn Konrad in Bonn.
Konrad von Moltke hat eine Tochter von Barbara und Hans Bernd von Haeften geheiratet. Er hat Mathematik am Dartmouth College und mittelalterliche Geschichte an der Universität München und der Universität Göttingen studiert. Er hat an der Universität von New York/Buffalo unterrichtet, als Mitglied des Verwaltungsrats dort sechs neue Studiengänge eingerichtet, darunter einen Studiengang der Umweltwissenschaften, er ist Honorarprofessor am Dartmouth College, Gastprofessor für Umweltwissenschaften an der Freien Universität Amsterdam, Senior Fellow am International Institute for Sustainable Development in Winnipeg und dem Institut für Nachhaltige Entwicklung und Internationale Beziehungen in Paris, er war zwischen 1976 und 1984 Gründungsdirektor des Instituts für
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