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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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allerdings nützen sich nicht ab. Sie werden nicht weniger überwältigend, im Laufe der Zeit: Dies ist etwas Unstillbares. Es sind oft Nächte, oder Momente wie Nächte, Momente der Leere, der Stille. Die Tage sind mit Gegenwart angefüllt bis zum Rand, auch mit den Anforderungen eines spät ergriffenen Berufs: Er hat erst mit fünfzig promoviert, im wiedervereinigten Deutschland.
    Vater und Mutter war ihm die DDR. Wie deutsch das ist: Das Land als erweiterter Familienverband. Der Aufstand gegen diesen Verband, gegen die Toten, gegen den unbekanntenHeldenvater, der diesen Staat gewollt hatte, war völlig undenkbar. Es ließ sich nicht rebellieren. Er war Ingenieur.
    Nun ist er Historiker. Dies ist der Puffer zwischen ihm und den wiederkehrenden Geschichten über die hingerichtete Mutter, den hingerichteten Vater. Dies ist die Knautschzone, die die Gegenwart schützt vor dem Aufprall, den er dennoch immer wieder erduldet, um nicht das wenige zu verlieren, was ihm trotz allem davon gehört.
    Natürlich, im Krieg haben viele ihre Eltern verloren. Aber seine Eltern wurden ermordet. Sie waren gemeint. Seine Mutter war still, sanft, tapfer, ganz selbstlos: So ist sie ihm beschrieben worden. Er spricht oft mit ihr, sehnsuchtsvoll. Er sollte das Unabänderliche vergessen: Dieser Rat ist ihm gegeben worden. Er kann aber nicht vergessen, was er nicht erinnert. Was er nicht gesehen, aber erlebt hat, was er nicht erinnert, aber mit der Milch aus der Brust seiner Mutter eingesogen hat: den Tod. Die Liebe. Seine Mutter und ihre überwältigende, ihn ganz umfangende Liebe, die auf ihn und nur auf ihn konzentriert war in diesen ersten acht Monaten seines Lebens, als man sie leben ließ, damit sie ihr Kind nähren konnte. Dann nahm man ihr das Kind aus dem Arm. Er wurde fortgebracht, ohne es zu merken. Er wurde fortgebracht, ohne zu begreifen, was für ein Abschied das war.
    Es ist nicht so, dass ihn das ständig beschäftigen würde. Es überkommt ihn nur in bestimmten Momenten, dass sich dieses versäumte Begreifen nicht nachholen lässt.

    Kommt ein Vogel geflogen,
    setzt sich nieder auf mein Fuß,
    hat ein Zettel im Schnabel
    Hannelore Thiel ist am 24. April 1945 von der Roten Armee aus dem Fabrikkommando Rathenow des KZ Ravensbrückbefreit worden. Ihr Sohn Alexander war drei Jahre alt. Grauste es ihn ein wenig vor dieser fremden Frau mit ihren merkwürdigen Augen, ihren verhärmten Zügen? Wollte Oma Hannah das Kind nicht hergeben? Der Junge ist jedenfalls erst einmal bei seiner Großmutter geblieben. Hannelore hat einen Kommunisten geheiratet. Sie ist mit ihm von Schöneberg in den Ostteil der Stadt gezogen. Und dann kam der Mauerbau, und von da an sah sie ihren erstgeborenen Sohn nur noch bei seinen seltenen Besuchen.
    Hannelore wird hinfort immer weinen, weinen und weinen. Sie wird Süßigkeiten essen, fett werden und weinen, sie wird ihrer Tochter Regine aus zweiter Ehe die Jugend vermiesen, das Leben womöglich.
    Schscht, leise. Denk an deine Mutter. Sie hat so viel Schweres erlebt.
    Schscht, leise. Denk an deinen Vater. Der arme Mann muss so hart arbeiten.
    Das sind die Gesänge dieser Kindheit. Es ist eine Kindheit in tiefem Grau. Auf Regine liegt eine Last, ein schweres Leid. Dieses Leid ist das Leid ihrer Mutter. Es ist in Regine. Es gehört nicht zu ihr, aber sie muss es tragen. Am schlimmsten ist es am 13. Mai, dem Tag, an dem Fritz Thiel hingerichtet worden ist. Regine kennt Fritz Thiel nicht, wie sollte sie? Aber am 13. Mai fühlt sie, dass der Schatten niemals abzustreifen ist. Es gibt keine Rückkehr ins Land der Lebenden. Nur ist gar nicht Regine unter dem Schatten gegangen, sondern ihre Mutter. Vielleicht ist Regine ja verrückt. Vielleicht stimmt etwas nicht mit ihr. Eine Wand trennt sie von den anderen. Sie ist nicht normal. Sie kämpft oft mit Selbstmordgedanken, einsam hinter der Membran ihres Schmerzes, der der Schmerz ihrer Mutter ist.
    Kommt ein Vogel geflogen,
    setzt sich nieder auf mein Fuß,
    hat ein Zettel im Schnabel
    Annedore und Julius Lebers Tochter Katharina ist von Anfang an entschlossen gewesen, niemals zu werden wie ihre Mutter. Und das ist ihr auch gelungen. Katharina hat sich freigekämpft, aus dem mütterlichen Tal der Tränen. Sie ist der Mutter nicht böse, warum auch? Sie ist auch dem Vater nicht böse.
    Aber sie wird sich nicht in Gefühlsstürmen verbrauchen. Sie hat eine Abneigung dagegen, sich auf etwas verpflichten zu lassen. Im Grunde ist es doch alles Wichtigtuerei. Karriere,

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