Wer wir sind
Erinnert er sich, wie er 1933 mit neunzehn Jahren am Ufer des Oslofjords auf und ab ging und die leidenschaftliche Rede memorierte, die er bei seiner Rückkehr nach Deutschland, nach dem Sturz des Regimes, zu halten gedachte? Am 7. November 1947 schreibt er an den norwegischen Außenminister Halvard Lange.
Du sollst wissen, dass ich eigentlich keine Illusionen habe. Aber ich will versuchen dabei zu helfen, dass Deutschlandnach Europa zurückgeführt wird. Es ist ziemlich sicher, dass ich Enttäuschungen erleben werde, vielleicht auch mehr als dies. Hoffentlich werde ich einer etwaigen Niederlage mit dem Gefühl begegnen, meine Pflicht getan zu haben.
Am 1. Juli 1948 wird Willy Brandt wieder deutscher Staatsbürger, zehn Jahre nach seiner Ausbürgerung. Ein anderes zerrissenes Band ist zu diesem Zeitpunkt längst geknüpft.
»Frau Leber. Mein Name ist Willy Brandt. Ich kannte Ihren Mann.«
Zusammen mit Willy Brandt wird Annedore Leber 1953 ihr erstes Buch herausgeben: ›Das Gewissen steht auf – 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand‹.
Arvid steht hier bei seinem Vetter Ernst von Harnack, Harro Schulze-Boysen bei den Scholls und bei Fritzi Schulenburg, bevor der Kalte Krieg sie trennt, sie nach Zeitgeschmack auseinanderreißt.
Charlotte von der Schulenburg hat Annedore Lebers Buch gelesen.
Sie arbeitet als Lehrerin am Internat Birklehof in Hinterzarten. Seit zwei Jahren erhält nun auch sie endlich eine Beamtenpension, die man der Witwe Freislers keinen Tag lang verweigert hat. Charlotte hat den Abschnitt über Fritzi natürlich zuerst gelesen. Sie glaubte erst, nicht richtig zu sehen,
Er schrieb in seinem Abschiedsbrief an seine Frau
Charlotte hat sich sofort mit Annedore in Verbindung gesetzt. Nun hält sie den Brief in den Händen. Es ist nicht das Original. Es ist eine Abschrift, mit Schreibmaschine.
Mein über alles geliebter Liebling,
Meine Gedanken waren am schwarzen 20. 7. bei Dir und suchten Dich. Auch in den folgenden Wochen, wo ich beim Geheimen Staatspolizeiamt einsaß, habe ich täglich mit Dirüber die Ferne weg gesprochen und jedes meiner Kinder gestreichelt. Behalte mich so lieb wie ich Dich, ganz fest und vertraut wie von Urbeginn an
wie von Urbeginn an
wie von Urbeginn an
Die Stimmen werden leiser.
Aber sie verstummen nicht.
Greta Kuckhoff ist von den Russen aus dem Zuchthaus befreit worden. Sie hat die für die Entnazifizierung der Lebensmittelbetriebe zuständige Amtsstelle im Magistrat Berlin geleitet und ihren Sohn Ule wieder zu sich geholt. 1950 wird sie Präsidentin der Notenbank der DDR, 1958 tritt sie nach Konflikten mit der SED zurück, und fortan setzt sie sich als Vizepräsidentin des Deutschen Friedensrates der DDR, Mitglied des Weltfriedensrates und Präsidentin der Deutsch-Britischen Gesellschaft für die Völkerfreundschaft ein. Und lange noch, vielleicht bis zum Ende ihres Lebens, wird sie von Zeit zu Zeit einsam damit ringen, dass der letzte Brief Adam Kuckhoffs, geschrieben am Tag seiner Hinrichtung, ihr einen allerletzten Gruß versprochen hat.
Meine Greta!
Ich weiß, dass es schwerer für Dich ist, als wenn Du mit mir gegangen wärst, aber ich muss mich freuen, dass Du – ich hoffe es – bleibst: für den Sohn, für alles, was nur in Dir so lebendig ist, ich fühle es ganz klar voraus, ich weiß, »wie Du leben wirst« …
Es ist 3 Uhr, kurz bevor ich gehe, schreibe ich Dir den letzten Gruß.
Diesen Gruß hat sie nicht erhalten.
Dieses Abgebrochene ohne Unterschrift ist es, das immerwieder quälend aus dunklen Bezirken in den hellen Tag hineintritt und ihr den Weg verstellt, so als müsste gerade dort etwas geschehen sein, was zu finden unumgänglich notwendig und doch für immer verloren ist.
Kommt ein Vogel geflogen,
setzt sich nieder auf mein Fuß,
hat ein Zettel im Schnabel
Landesarchiv, am Eichborndamm 115 in Norden Berlins. Er hält die Akte seiner Mutter in der Hand. Hilde Coppis Akte. Da ist das Gnadengesuch aus der Barnimstraße. Da die Auflistung ihrer Habe. Da ist der Fragebogen, ausgefüllt vor der Hinrichtung.
Familienname: Coppi geb Rake
Familienstand: verwitwet
Name des Ehemannes: Hans Coppi
Name(n) der/s Kinder/s: Hans Coppi
Mit acht Monaten war er Waise, mit achtzehn hatte er keine Großeltern mehr. Das Beste seines Lebens war der Anfang. Und dieser Anfang ist seinem Zugriff für immer entzogen. Es ist nicht so, dass es ihn ständig beschäftigen würde. Es überkommt ihn nur in bestimmten Momenten. Diese Momente
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