Wer wir sind
Ehe, Mutterschaft: Große Worte, aber wozu sind sie gut? Und die Kinder gehen jedenfalls gern zur Oma. Katharina hat schließlich auch nicht eine ganze Kindheit lang an den Rockschößen ihrer Mutter gehangen. Zum Glück! Ohnehin war sie der Liebling des Vaters.
Der Vater hat Katharinas unabhängiges Wesen geliebt, ihren Optimismus. Katharina mag keine unnötigen Verwicklungen. Und welche Verwicklungen sind schon nötig? Sie muss sich doch nur ihren Bruder ansehen, den Sorgenjungen Matthias, den Liebling der Mutter, der wie unter Zwang immer wieder zu Annedore zurückkehrt.
»Sie soll mich in Ruhe lassen! Katharina, warum kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen!«
Soll er doch einfach nicht mehr hingehen! Der Bruder hat Psychologie studiert, dann Medizin. Er müsste nicht mit der Mutter leben. Er könnte allein leben, oder er könnte bei Katharina einziehen. Katharina hat immer ein freies Sofa. Oder sie könnte eine Matratze in die Wohnung legen.
»Bleib doch einfach hier. Geh doch nicht zu ihr. Geh doch nicht immer wieder zu ihr zurück.«
Aber er kann es nicht lassen. Er muss zurückkehren, um weiterzustreiten, weiterzuleiden, weiterzuhadern.
»Sag es mir, Mutter. Wozu hat er es getan? Mein Vater. Seine politischen Ideen kümmern niemanden mehr. Er hat versagt. Sie haben alle versagt. Sie haben ihr Leben weggeworfen, für nichts und wieder nichts. Warum? Warum ist er nicht bei uns geblieben und ein richtiger Vater gewesen? Und du, mit deinen ewigen Tränen, deinen ewigen Büchern. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Du sollst mich in Ruhe lassen. Er soll mich in Ruhe lassen. Ihr sollt mich alle in Ruhe lassen.«
Annedore Leber hat ein weiteres Buch über den Widerstand verfasst, zusammen mit Freya Moltke, die 1956 nach Berlin zurückgekehrt ist.
Von 1954 bis 1962 ist sie Bezirksverordnete von Zehlendorf. 1963 wird sie Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. An einem Wintertag dieses Jahres kommt sie nach Hause und findet ihren Sohn tot. Matthias Leber hat sich in der Wohnung seiner Mutter erhängt.
Kommt ein Vogel geflogen,
setzt sich nieder auf mein Fuß,
hat ein Zettel im Schnabel
Erst 2003 liest Saskia von Brockdorff den Abschiedsbrief ihrer Mutter an sie, in der Gedenkstätte des Widerstands in der Bendlerstraße. Nicht die Nazis sind daran schuld. Saskias Vater Cay hat ihr den Brief vorenthalten, wie er ihr alles vorenthalten hat: Nach der Hinrichtung Erikas hat er Saskia von den Großeltern in Ostpreußen fortgeholt. Er hat sie aber nicht haben wollen. Er hat sie von einem Heim ins andere geschickt, von einem Internat ins andere gestoßen. Und er hat ihr die Mutter verschwiegen. Es gab keine Geschichten, keine Bilder, keine Erinnerungsstücke. Nur wenn der Vater sehr zornig war,wieder einmal sehr enttäuscht von Saskia, hat er ihr die Mutter als ewig unerreichbares Vorbild hingestellt. Saskia hat sich gesagt, dass sie ihre Mutter hasst.
Einmal hat sie beim Herumstöbern ein Foto gefunden. Das hat sie behalten und vor dem Vater versteckt.
Sie hat fast ein ganzes Leben gebraucht, um ihrer Mutter zu vergeben: Erika Brockdorff hat sich umbringen lassen. Sie hat Saskia verlassen. Sie war größer als Saskia, unerreichbar groß, und sie allein besaß die Liebe des Vaters. Aber Erika von Brockdorff wollte, dass ihre Tochter Saskia ihre Puderdose haben sollte.
Das steht in dem Abschiedsbrief. Eri hat im Gefängnis einen Pullover und eine Hose für ihre kleine Tochter gestrickt, in den langen eisigen Tagen, während sie auf ihr Urteil wartete. Auch das hat in dem Brief gestanden.
Und dann der Schmerz, den Vater nie gekannt zu haben. Kann man sich das vorstellen? Aber natürlich. So viele sind gestorben, ohne ihr Kind gesehen zu haben, an den Fronten ohnehin, aber eben auch in den Lagern, auch in den Hinrichtungsstätten.
Sie ist eines dieser Kinder, und eben dies: dass ihr Name nicht zu den großen, berühmten, allgemein bekannten Namen gehört, scheint ihr das Exemplarische an ihrer Geschichte zu sein.
Als Kind hat sie das alles von sich geschoben. Die Mutter war schwanger mit ihr, als der Vater ermordet wurde. Diese ganze Geschichte schien ihr die ihrer Mutter zu sein, und die Geschichte der Mutter war nicht ihre eigene. Aber das war natürlich nicht wahr. Das war eine Lüge. Selbsttäuschung. Die Toten begleiten die Lebenden. Sie kehren sporadisch zurück, immer wieder. Es ist eine Lebensphasenarbeit. Das nächste Mal wird es ihr vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren geschehen:
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