Wer zuletzt lacht, küsst am besten: Roman (German Edition)
ein paar Tage, bevor sie schwebende Verkäufe auf die Liste setzten, weil sie hofften, dass noch ein anderer Makler einem Interessenten die Immobilie zeigte und ein bisschen mehr herausschlagen konnte. Raffinierte Mistkerle.
»Es ist gelistet.«
Erleichtert atmete sie auf. »Gut.« Bei der aktuellen Marktlage zählte jeder Verkauf. Selbst die kleinsten Vermittlungsprovisionen. »Ich melde mich morgen wieder bei dir.« Damit deponierte sie das Telefon schwungvoll im Getränkehalter.
Draußen vor dem Fenster glitten Schlieren aus Braun, Braun und nochmals Braun vorüber, nur von Reihen aus Windrädern in der Ferne unterbrochen, deren Propeller sich langsam im warmen texanischen Wind drehten. Kindheitserinnerungen und altvertraute Gefühle stiegen in ihr auf. Die altvertraute bunte Mischung aus Emotionen, die tief in ihr schlummerten, bis sie die texanische Grenze überquerte. Ein Wirrwarr aus Liebe und Sehnsucht, Enttäuschung und verpassten Gelegenheiten.
Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen war die an ihre Mutter, wie sie von ihr für einen Schönheitswettbewerb aufgebrezelt wurde. Im Laufe der Zeit waren diese Erinnerungen undeutlicher geworden, sodass die überkandidelten Schönheitswettbewerbskleidchen und die Unmengen falscher Haarteile, die mit Klammern an ihrem Kopf befestigt wurden, nur noch verblasste Bilder waren. Doch die Gefühle waren noch sehr präsent. Sie erinnerte sich an die freudige Erregung und an das beruhigende Streicheln ihrer Mutter. Sie erinnerte sich auch an das Lampenfieber, an den Wunsch, ihre Sache gut zu machen. Zu gefallen und dass sie es nie ganz auf die Reihe gekriegt hatte. Sie erinnerte sich an die Enttäuschung, die ihre Mutter trotz aller Bemühungen nicht hatte verbergen können, wenn ihr Töchterchen zwar den Preis für das niedlichste »Haustierfoto« oder das hübscheste Kleidchen gewann, es aber wieder nicht schaffte, die große Krone zu erringen. Mit jedem Wettbewerb hatte sich Sadie noch größere Mühe gegeben. Noch etwas lauter gesungen, die Hüften ein bisschen schneller geschüttelt oder einen zusätzlichen Schritt in ihre Choreo eingebaut, doch je mehr sie sich bemühte, desto eher verfehlte sie auch die Töne, den Takt oder den Bühnenrand. Ihre Schönheitswettbewerbstrainerin ermahnte sie stets, sich an das Einstudierte zu halten, dem Drehbuch zu folgen, aber das tat sie natürlich nie. Es war ihr schon immer schwergefallen, zu tun und zu lassen, was man ihr sagte.
An die Beerdigung ihrer Mutter erinnerte sie sich nur noch vage. An die Orgelmusik, die von den hölzernen Kirchenwänden widerhallte, und an die harten weißen Kirchenbänke. An das Kaffeetrinken auf der JH-Ranch nach der Trauerfeier und die nach Lavendel duftenden Busen ihrer Tanten. »Armes Waisenkind«, hatten sie gegurrt, während sie Käseplätzchen mampften. »Was soll jetzt aus dem armen verwaisten Baby meiner Schwester werden?« Dabei war sie weder ein Baby noch verwaist gewesen.
Die Erinnerungen an ihren Vater waren lebendiger und präziser. Sein strenges Profil vor dem unendlichen Blau des Sommerhimmels. Seine großen Hände, die sie in den Sattel warfen, und wie sie sich festklammerte, während sie hinter ihm herraste, um mit ihm mitzuhalten. Seine Hand auf ihrem Kopf, deren raue Haut an ihren Haaren hängen blieb, als sie vor dem weißen Sarg ihrer Mutter stand. Seine Schritte, die an ihrer Schlafzimmertür vorbeigingen, wenn sie sich in den Schlaf weinte.
Ihre Beziehung zu ihrem Vater war von jeher schwierig und verwirrend gewesen. Ein ewiges Hin und Her. Ein emotionales Tauziehen, das sie immer verlor. Je mehr Gefühle sie zeigte, je mehr sie versuchte, sich an ihn zu klammern, desto heftiger stieß er sie weg, bis sie schließlich aufgab.
Jahrelang hatte sie sich bemüht, den Erwartungen aller gerecht zu werden. Denen ihrer Mutter. Denen ihres Vaters. Denen einer ganzen Kleinstadt voller Einwohner, die immer von ihr erwartet hatten, ein liebreizendes, folgsames Mädchen zu sein. Eine Schönheitskönigin. Ein Mensch, auf den sie stolz sein konnten wie auf ihre Mutter oder zu dem sie aufblicken konnten wie zu ihrem Vater, doch als sie in die Mittelstufe kam, war sie dieser schweren Last überdrüssig. Sie hatte diese Bürde abgelegt und begonnen, einfach nur Sadie zu sein. Rückblickend musste sie zugeben, dass sie sich manchmal unmöglich aufgeführt hatte. Manchmal sogar mit Absicht. Wie mit den pink gefärbten Haaren und dem schwarzen Lippenstift. Das war kein Mode-Statement
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