Wer zweimal stirbt, ist laenger tot
ein bisschen mehr von der Welt sehen will als Neuengland und Minnesota, bevor ich sterbe und wieder in die Hölle komme.«
»Wieder in die Hölle?«
Sie blies sich die Haare aus den Augen, ziemlich entnervt ob der Langsamkeit meiner Denkprozesse. »Natürlich, du dumme Nuss. Wo sollte ich wohl sonst enden? Aber …« Plötzlich lächelte sie, so strahlend und herzlich, dass ich mich wieder einmal bei dem Gedanken ertappte, was für eine tolle Frau sie doch sein könnte – wenn ich ihr nicht gerade am liebsten die Lippen zugetackert hätte. »Aber vorher möchte ich mir ein paar Jahre die Welt angucken. Hast du gewusst, dass Garrett noch nie U-Bahn gefahren ist? Oder zum Angeln gegangen ist? Oder Freeclimbing betrieben oder sich eine Krawatte gekauft hat? Er hat noch niemals Kekse gebacken und war auch noch nie im Zoo. Kennt keine Baseballspiele und keine Achterbahn. Von Spielcasinos und Flugreisen gar nicht zu reden. Wobei mir einfällt …« Sie schrie etwas nach draußen zu Garrett. Mir fielen fast die Ohren ab. »Ich hab die Karten gekriegt!«
»Aua.«
»Heulsuse.«
»Karten?«
»Für das Wolle-und-Faser-Festival in Kalifornien«, erklärte sie mit ihrem typischen Versuch-doch-mal-nicht-so-blöd-zu-sein-Tonfall.
Was konnte man dazu noch sagen? Der schlichte Abschied von einigen Mitbewohnern war wieder einmal zu einer bizarren Szene ausgeartet. Ich erwog verschiedene zickige Entgegnungen, gab mich am Ende jedoch mit »Hab nicht mal gewusst, dass es so was gibt« zufrieden.
»Das liegt daran, dass du ein sabbernder Volltrottel bist, Betsy.« Wieder warf sie mir dieses strahlende Lächeln zu, das ihren Worten jeden Stachel nahm. »Und jetzt sperr endlich mal deine Lauscher auf! Und sieh mich an, auch wenn es dir schwerfällt, weil du ja andauernd abgelenkt bist.« Sie deutete auf ihre Augen. Äh … unheimlich. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, und ich starre dir in die Augen, die, wenn ich sie recht betrachte, sehr weit auseinanderstehen. Hast du immer schon wie ein Hammerhai ausgesehen, oder fällt mir das jetzt erst auf?«
Ich dachte, ich würde eine pampige Antwort bekommen, aber Antonia nickte nur. »Genau das meine ich. Ich lebe schon wer weiß wie lange in deinem Haus, und erst jetzt fällt dir auf, dass ich weit auseinanderstehende Augen habe.«
»Wie ein Hai!«
»Halt die Klappe! Und hör mir zu! Du musst jetzt genau zuhören, Betsy. Nur Michael weiß, dass ich am Leben bin, doch der Form halber muss er ein anderes Rudelmitglied herschicken. Der Grund wird angeblich der sein, dass weitere freundschaftliche Beziehungen zwischen seinen gut durchtrainierten Rudelmitgliedern und euch hinterhältigen bleichen Blutegeln gebildet und erhalten werden sollen. Also halte Ausschau nach einem neuen Werwolf in der Nachbarschaft! Oder einer Werwölfin. Denn sie werden schon bald hier eintreffen.«
»Deshalb lässt er dich gehen!« Plötzlich hatte ich begriffen. »Er kann keinen Ersatzwolf schicken, weil das Rudel dann begreift, dass du noch am Leben bist, deshalb lässt er dich verduften. Du erhältst deine Belohnung, weil du von den Toten wiedergekehrt bist, und er kann einen neuen Spion schicken, der uns im Auge behält.«
»Ja.«
»Hinterhältiger Mistkerl.«
»Ja. Und wenn er hören könnte, wie du ihn nennst …«
»Ja, Mensch, dann sag es ihm halt nicht!«
»… würde er sich geschmeichelt fühlen. Ich glaube, das wär’s dann.«
»Echt?« Super. Ich hatte allmählich das Gefühl, als hätte ich ihr anderthalb Monate lang zugehört. »Okay, dann hol ich jetzt mal die …«
»Tschüss.«
»Wirst du wohl dableiben!«
Antonia, die bereits in Richtung Wagen gestartet war, drehte sich wieder um und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Die anderen wollen dir doch auch Lebewohl sagen.«
»Warum?«
Argh. Das Merkwürdige war, dass sie ehrlich verblüfft war. Sie wollte gehen, wir alle wussten, dass sie ging, sie würde irgendwann wiederkommen, Ende der Geschichte. Wozu es noch länger hinziehen? Was sollte das bringen?
(Werwölfe sind echt schräg.)
Sie sah mich finster an. »Du willst mich doch jetzt nicht etwa umarmen? Oder weinen? Heul nicht!«
»Keine Sorge. Falls etwas in mir sich nach einem herzlichen Abschied sehnte, so hast du es jetzt getötet.«
»Oh. Gut. Außerdem ist es ja kein Abschied für immer. Wir kommen in ein paar Monaten wieder. Oder in einem Jahr. Okay, in zwei Jahren … wie auch immer … du heulst doch nicht etwa?«
»Nur vor Anstrengung, dich nicht zu treten,
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