Werke
so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heißen. Genug, daß Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr später lebet; und daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat.
Wenn der Titel Nanine nichts sagt; so sagt der andere Titel desto mehr: Nanine, oder das besiegte Vorurteil. Und warum soll ein Stück nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der nämlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte, das besiegte Vorurteil; und auf dem andern, der Mann ohne Vorurteil. Doch beides ist nicht weit aus einander. Es ist von dem Vorurteile, daß zu einer vernünftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein Paar Stücke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Glück gemacht hatten. Die Pamela des Boissy und des De la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stücke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen.
Nanine gehört unter die rührenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel lächerliche Szenen, und nur in so fern, als die lächerlichen Szenen mit den rührenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komödie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komödie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal lächelt, wo man nur immer weinen möchte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Übergang von dem Rührenden zum Lächerlichen, und von dem Lächerlichen zum Rührenden, sehr natürlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine beständige Kette solcher Übergänge, und die Komödie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. »Was ist gewöhnlicher, sagt er, als daß in dem nämlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich über beide aufhält, und jeder Anverwandte bei der nämlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube neben an äußerst bewegt; und nicht selten hat eben dieselbe Person in eben derselben Viertelstunde über eben dieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwürdige Matrone saß bei einer von ihren Töchtern, die gefährlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Tränen zerfließen, sie rang die Hände, und rief: O Gott! laß mir, laß mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafür nehmen! Hier trat ein Mann, der eine von ihren übrigen Töchtern geheiratet hatte, näher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Ärmel, und fragte: Madame, auch die Schwiegersöhne? Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betrübte Dame, daß sie in vollem Gelächter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hörte, wäre vor Lachen fast erstickt.«
»Homer, sagt er an einem andern Orte, läßt sogar die Götter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, über den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht über die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heißesten Tränen vergießt. Es trifft sich wohl, daß mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst, oder sonst eines traurigen Verhängnisses, ein Einfall, eine ungefähre Posse, Trotz aller Beängstigung, Trotz alles Mitleids, das unbändigste Lachen erregt. Man befahl, in der Schlacht bei Speyern, einem Regimente, daß es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen; nur das Leben nicht; damit kann ich unmöglich dienen! Diese Naivetät ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komödie das Lachen auf rührende Empfindungen folgen können? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen.«
Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte
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