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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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siegte: aber welche kleine, jämmerliche Rolle läßt ihn Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagene, ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kühnsten, schwärzesten Streiche fähig war, die den Sultan durch ihre Ränke und falsche Zärtlichkeit so weit zu bringen wußte, daß er wider sein eigenes Blut wütete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine närrische Coquette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als böse. Sind dergleichen Verkleidungen, fragen sie, wohl erlaubt? Darf ein Poet, oder ein Erzähler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn er Facta nach seinem Gutdünken verändern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt, und einen Sokrates galant schildern?«
    Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich möchte die Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht übernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geäußert, (18) daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen können; da hingegen einerlei Factum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt. Zweitens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntnis bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Facta hervor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europäische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Factum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Factum wirklich geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden können, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er wählen will; ob die, welche die Historie bestätiget, oder eine andere, so wie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzählung verbindet, das eine oder das andere gemäßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere, als die historischen, oder wohl gar diesen völlig entgegen gesetzte wählet, auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheint sie wenigstens zu vermehren, und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Facta betrachten wir als etwas zufälliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die Charaktere hingegen als etwas wesentliches und eigentümliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, so lange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung scheinet uns die Individualität aufzuheben, und andere Personen unterzuschieben, betrügerische Personen, die fremde Namen usurpieren, und sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind.
    { ‡ }
Vier und dreißigstes Stück
    Den 25sten August, 1767
    Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewählten Charakteren selbst, es sei von Seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervor zu bringen vermag, macht seinen Reichtum aus; (19) was es gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug darüber verwundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: »Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen

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